Drahtseilakte

Tanz auf dem Drahtseil - 450 Meter hoch

Viel Wind beim "künstlerischsten Verbrechen" des Jahrhunderts

Die Nachricht über den Hochseilläufer Nik Wallenda, der es geschafft hat, in Chicago in rund 200 Metern Höhe mit verbundenen Augen vom Dach eines Wolkenkratzers zu einem anderen zu laufen, ging überall als wagemutiges Kunststück durch die Tagespresse. Zuerst ging´s auf einem Stahlseil bergan, dann durch Rufe des Vaters geleitet, mit verbundenen Augen vom Dach eines Wolkenkratzers zu einem anderen – alles in etwa 200 Metern Höhe. Dabei besteht in der Familie allerdings kein besondererer Grund, den Altvorderen zu vertrauen, denn schon der Urgroßvater Karl aus Magdeburg, stürzte mit 73 Jahren zwischen zwei Hochhäusern in den Tod; sieben Familienmitglieder hüpften hinterher.
Wie auch immer: Das Ereignis erinnert an eine andere Geschichte, leider kaum bekannt aber viel spektakulärer, die immerhin in einem wunderschönen Film voller Poesie mündete.

Taugenichts

Philippe Petit heißt unser Held, Hochseilartist, Taschenspieler, Pantomime und Straßenjongleur, ein ganz großer, skurriler, liebenswerter und schräger Typ, wie sie leider immer seltener werden.
Mit seinem Vater, Edmond, einem Piloten, bei dem im Leben vor allem Präzision zählte, kam er nicht klar. Der hatte zwar auch eine künstlerischen Ader, verfasste Bücher übers Fliegen und schöne Flugzeuge - eins ist sogar noch im Handel erhältlich - und zeichnete sich wohl auch durch Wagemut aus. So auch der Knabe. Ansonsten waren Zaubertricks, Kreativität, Akrobatik und Jonglierkünste seine Welt. Wegen seiner Widerborstigkeit wechselte er viermal die Schule und brannte schließlich von Zuhause durch.
Bald beherrschte er die Drahtseilakrobatik von vorne bis hinten, was ihn zu langweilen begann, denn binnen eines Jahres waren der Rückwärts- und Vorwärtssalto, das Ein- und Zweirad, der Stuhl auf dem Draht, der Sprung durch Reifen intus, so dass sich eine Zeit als Straßenkünstler in Paris anschloss.
Im Jahr 1971 spazierte er verbotenerweise auf seinem Seil zwischen den Kirchtürmen von Notre Dame umher; 1973 mussten die Brückentürme der Sydney Harbour Bridge herhalten. Dann folgte zur Abwechslung mal etwas Legales: Im Jahr 1989 hatte er nach fünfzehnjährigen Bemühungen die Bewilligung zur Überquerung der Strecke vom Palais de Chaillot über die Seine zur zweiten Etage des Eiffelturms erlangt. Wegstrecke 800 Meter, Zeit rund eine Stunde. Etwa eine Viertelmillion Leute guckte zu.

Verdammte Arztpraxis

Im Wartezimmer seines Zahnarztes war der damals Siebzehnjährige Ende der Sechziger auf einen Artikel über die damals erst in der ersten Bauphase befindlichen Zwillingstürme des Word Trade Centers gestoßen. Damit war es um ihn geschehen. Das Gebäude, später einmal das höchste Gebäude der Welt, war nun sein Ziel. Sechs Jahre lang bereitete er seine Aktion vor - der Leser ahnt es - einen Spaziergang zwischen den Türmen auf einer Höhe 417 Metern - nicht wie Wallenda bei schlappen 200 Metern - über dem Boden. Geübt wurde u.a. auf einer angemieteten Weide in La Veurdre in der Normandie, wo er ein Terrain abgesteckt und die Spitzen der Türme nachgestellt hatte. Sydney, Notre Dame, Eiffelturm - das waren nur Zwischenspiele.
Er sammelte alle Informationen zum WTC, derer er nur habhaft werden konnte und hielt sich mehrere Male zwecks Erkundungen vor Ort in New York auf. So gelang es ihm sogar unter dem Vorwand, ein französischer Journalist zu sein, den Bauleiter Guy F. Tozzoli zu interviewen. Die Amerikaner waren angetan, versprachen sie sich doch einen Werbeeffekt durch die französische Presse. Die Herzen der New Yorker schlagen eh immer ein wenig für Frankreich, weil das Land ihnen die Freiheitsstatue geschenkt hatte.

Vorbei an den Wachtwauwaus

Abends am 6. August 1974 schlug die Bande um Philippe Petit zu. Die Türme waren zwar immer noch nicht bezugsfertig, hatten aber immerhin ihre geplante Höhe erreicht. Nun war die ganze Ausrüstung mit Balancierstange, Seilen, darunter ein 75 Meter langes Stahlseil sowie Werkzeug, Pfeil und Bogen inbegriffen, nach oben zu bugsieren. Getarnt als Geschäftsleute und Möbelpacker wurden die Sicherheitszerberusse beider Türme umgangen und die Ausstattung wurde auf die Dächer geschleust. Nur durch einen glücklichen Zufall gelang es, per Aufzug gleich den obersten Stock zu erreichen. Ansonsten wären so zwanzig Stockwerke Schlepperei angesagt gewesen, denn die oberen Etagen waren nur Handwerkern mit besonderem Ausweis zugänglich.
Tags darauf krochen sie morgens aus ihrem Versteck unter einer Plane hervor und schleppten das Seil ganz nach oben aufs Dach sozusagen, vorbei an einem Wächter, der unversehens dahockte, sich aber aus unerfindlichen Gründen nicht rührte.

Dramaturgische Zuspitzung

Nun auf der obersten Plattform war erstmal das Seil zu spannen, dies bei erschwerter Sicht wegen leichten Frühnebels. Ein Pfeil mit einer dünnen Schur, wurde vom gegenüberliegenden Turm 60 Meter weit hergeschossen, war aber wegen des Nebels nicht aufzufinden. Also zog unser Protagonist sich aus, um die Schnur auf seiner nackten Haut spüren zu können. Das gelang schließlich. Daran wurde nun nacheinander ein immer "handkräftigeres" Seil hinübergezogen, bis das letzte dann stark genug war, um das Balancierseil zu tragen. Das war ungesichert und entwischte unseren Helden durch eine Unvorsichtigkeit, rauschte in die Tiefe und war erstmal mühevoll in halbstündiger Arbeit wieder hochzuhieven. Danach waren erstmal alle erschöpft, alle am Ende ihrer Kräfte. Dann waren die Cavaletti zu spannen, Seile, die das Hauptseil seitlich strafften, so dass es nicht zu sehr pendeln konnte, denn auf so rund einem halben Kilometer Höhe herrscht Wind. Lange Seile schwanken zudem nicht nur hin und her, sondern haben auch noch die teuflische Eigenart, sich um die eigene Achse zu winden. Zwischendurch flatterte noch eine Jacke oder ein Tuch davon, so dass die Freundin unten fast in Ohnmacht fiel. Schließlich ging es gegen sieben Uhr bei leichtem Wind los. Der erste Schritt war der schwerste, aber einmal auf dem Seil, klappte alles wie am Schnürchen, wie gewohnt. 

Ballett

Insgesamt balancierte Petit traumwandlerisch achtmal auf seinem Drahtseil von rund zweieinhalb Zentimetern Durchmesser zwischen den Türmen hin und her. Er "tanzte". Die Ahhs und Ohhs der Bande von Eingeweihten unten erregten die Aufmerksamkeit weiterer "Bodenständischer", die auf dem Weg zur Arbeit verharrten, um das außergewöhnliche Schauspiel zu verfolgten. Tausende guckten zu. Bald tauchte die Ordnungmacht oben auf dem Turm auf, griff aber nicht zu. Warum nicht, warum bloß nicht?
Schließlich kreuzte noch ein Hubschrauber auf, mit der Drohung, ihn "runterzuholen", wenn er nicht endlich klein beigebe. Tatsächlich hätte der ihn durch den Wind der Rotoren vermutlich gleich in die Hölle befördern können. Nach einer Dreiviertelstunde dann beendete Petit das Spektakel, nicht ohne die Ordnungshüter durch sein Hin- und Herspringen ordentlich zu foppen. So setzt er sich aufs Seil, lächelte sie an, spielte mit ihnen, indem er auf sie zuschrittt, sich wieder zurückzog, sich niederkniete, auf dem Seil umherhüpfte und auf einem Bein balancierte.

Tiefer Fall

Anschließend gleich die Verhaftung: "Man On Wire" lautet der Protokolleintrag des Polizisten. Der Arzt in der Psychiatrie fragte, wann Philippe das letzte Mal getrunken habe, was den zum Hopsen brachte. "Dreihundert Journalisten warten da draußen, und Sie fragen mich solche Banalitäten?" Also notierte der Arzt, Philippe sei normal, aber sehr durstig. Wegen der eingehenden Berichterstattung und der Aufsehens, den der Spaziergang erregte - alle Medien berichteten - wurden sämtliche Anklagepunkte fallengelassen. Bedingung: Er musste verraten, wie es ihm gelungen war, die Sicherheitsschranken zu umgehen.

Belohnungen

Kaum in Freiheit, schnappte ihn sich eine Amerikanerin, die auf ihn gewartet hatte, so wie ein Groupie, um den Helden erstmal mit ihrer Präsenz zu feiern. Sie schlang ihren Arm liebevoll um seinen Nacken, zog ihn zu sich und entführte ihn. Die Gene musste sie haben. Während die Toberei im Gange war, mussten alle Freunde - auch seine Freundin, welche die Welt nicht mehr verstand - ohnmächtig ausharren. Danach war die Welt für das Paar dann allerdings nicht mehr diesselbe.

Als Dankeschön erhielt Petit immerhin noch eine Dauerkarte für die Aussichtsplattform des World Trade Centers, die im September 2011 verfiel.
Ob die Belohnung der Amerikanerin einen lütten "petit" Petit zeitigte, ist unbekannt. Noch weiß die Welt nichts von jemandem, der z.B. ein Drahtseil zwischen Mt. Everest und Annapurna gespannt hätte ...  Aber Petit lebt heute nahe Woodstock im Staat New York. Warum ist unbekannt.

Fazit: Ein wundervoller Film von James Marsh, ein Hochgenuss, sehr berührend, ein tolles Geschenk, aber auch ein immer wieder mal gern gesehenes Geschenk für einen selbst. 

Man on Wire - Der Drahtseilakt

Wer dagegen mal mit dem einen oder anderen eine Rechnung im Leben zu begleichen hätte, findet dagegen hier ein nettes Geschenk.