Selbstverwirklichung

Aspekte der Industrialisierung

Selbstverwirklichung

Die Kibbuzindustrie begann mit der Errichtung kleinerer Reparaturwerkstätten durch qualifizierte Fachkräfte. Es gab z.B. Schreiner, die zunächst hobbymäßig neben der Landwirtschaft auch Möbel für Kibbuzzwecke herstellten. Sie wollten ein Stück Selbstverwirklichung nicht aufgeben, obwohl der Kibbuz eigentlich nur auf Landwirtschaft aus war. Sie arbeiteten eben gerne kreativ mit Holz und wollten sich das nicht nehmen lassen.

Später hat die Modernisierung und Mechanisierung der Landwirtschaft die Aufnahmefähigkeit für Neuankömmlinge vermindert. Die neu entstandene Industrie konnte dagegen dem Einzelnen ein breites Angebot beruflicher Möglichkeiten bieten, die früher im Kibbuz unbekannt waren. All diejenigen, die sich für andere Bereiche als für die Landwirtschaft interessierten, hätten ohne die Industrie viel weniger Entfaltungsmöglichkeiten gehabt. Nach den Zeiten der Pioniere kam die Konsolidierung der Kibbuzim als Siedlungsform. Die junge Generation der vierziger und fünfziger Jahre sah sich auch vor nationale Aufgaben der Landbesiedlung gestellt. Es war die Industrie, die nachkommenden Generationen eine attraktive Herausforderung bieten konnte. Hier wiederum konnte die individuelle Selbstverwirklichung im Rahmen einer nationalen Anstrengung stattfinden. Die letzten Jahren zeigen wieder, wie die Industrie den Jüngeren völlig neue Bereiche zu individueller Entfaltung anbietet. Die Industriealisierung hat also unter anderem die Möglichkeiten neuer schöpferischer Tätigkeit enorm erweitert. Das breitere Angebot zu beruflicher Entfaltung bedeutet ein Stück größerer Freiheit und Selbstverwirklichung. Auf der anderen Seite hat gerade die Industrie zur Folge gehabt, daß der Arbeiter die direkte Beziehung zum Endprodukt verloren hat: in der Landwirtschaft sieht man das konkrete Endprodukt, im industriellen Bereich entstehen dagegen eine Reihe von Berufen und Arbeitsplätzen, die keine klare Beziehung zwischen den Menschen und ihren Produkten ermöglichen.

Die Industrialisierung ermöglicht andererseits auch eine Arbeitszeitverkürzung und gibt damit eine weitere Chance zur Selbstverwirklichung. Die größere Freizeit bietet den nötigen Ausgleich zwischen dem geforderten Beitrag für die Allgemeinheit und der Beschäftigung mit sich selbst, Freunden etc.
Da die Mitglieder im Kibbuz selber und direkt die Entscheidungen über die Errichtung und Leitung der Fabrik treffen, ist damit bereits ein Stück Selbstverwirklichung erreicht.

Kommunikation mit der Außenwelt

Die landwirtschaftliche Wirklichkeit der Kibbuzim ermöglichte es, lange Jahre die Berührung mit der Außenwelt so gering wie möglich zu halten. Der Anbau erfolgte naturgemäß im Kibbuz, und die Vermarktung seiner Erzeugnisse übernahmen gewerkschaftseigene Großhandelsorganisationen. Da jedes industrielle Kibbuzunternehmen sich dagegen selbst um den Verkauf seiner Produkte kümmern mußte, kam die Kibbuzgesellschaft in direkte tägliche Berührung mit der städtischen israelischen Gesellschaft. Die Wirtschaftspraxis der Stadt übte ihren Einfluß auf den Kibbuz in verstärkter Weise aus. Als die Fabriken immer mehr auf die Exportmärkte angewiesen waren, war das Kibbuzmitglied dem Weltgeschehen viel näher gekommen.

Aber die Wertvorstellungen des Kibbuz stehen in heftigem Gegensatz zu der materiellen konkurrenzorientierten Außenwelt. Die Einwirkung der Konsumgesellschaft des Westens hat den Pioniergeist der Bescheidenheit verdrängt.
Der wirtschaftliche Drang nach größeren Serien in der Produktion hat mit dazu beigetragen, das Prinzip der Selbstarbeit zu verlassen. Die Verflechtungen mit der Umgebung haben bei vielen Kibbuzim Tendenzen zu einem Arbeitgeberverhalten ausgelöst und ihren ursprünglichen sozialen Auftrag in der israelischen Gesellschaft zurücktreten lassen.
Es kam sogar zu Feindseligkeiten zwischen den Kibbuzim und benachbarten Entwicklungsstädten, als aus Kostengründen Lohnarbeiter entlassen werden mußten. Die Angebote, sich dem Kibbuz anzuschließen, fanden auf Seiten der Lohnarbeiter aus verschieden Gründen kein positives Echo.

Die Problematik der Lohnarbeit hat auch die kibbuzinterne Atmosphäre belastet und die eigenen ideologischen Konflikte verschärft. Mit anderen Worten: die Industrie hat den Kibbuz aus der Isolation herausgeholt. Nicht immer war der Ausgang der Begegnung mit der Wertvorstellung der Umgebung für die Kibbuzim erfreulich. Aber auf lange Sicht gesehen dient die Industrie als wichtige kommunikative Brücke zwischen dem Kibbuz und der Außenwelt. Der Kibbuz wird sich auch in Zukunft mit dem Geschehen draußen beschäftigen müssen.