Gastschuljahr in Deutschland

Als französische Gastschülerin in Deutschland

Die Perspektive der anderen

Warum nicht einmal andersrum? Ein Gastschulaufenthalt in Deutschland aus dem Blickwinkel einer Ausländerin verrät nicht nur viel über das eigene Land sondern auch über andere Kulturen.
Von ihren Erfahrungen in Deutschland berichtet die Französin Magali, die sich über Voltaire ein halbes Jahr in Deutschland aufhielt:

"Ein Schüleraustausch mit England weckte in mir die Leidenschaft für Fremdsprachen. Seitdem antworte ich auf die Frage nach meinem Berufswunsch mit "mehrsprachig", doch leider ist das ja kein richtiger Beruf ... Aber wenn ich mir einmal etwas in den Kopf gesetzt habe, setze ich auch alles daran, den Wunsch in Erfüllung gehen zu lassen. Deswegen hatte ich vor, meine gesamte "première", also die elfte Klasse, in Deutschland zu verbringen. Doch ein ganzes Jahr war entschieden zu viel für meine Mutter, deren einzige Tochter ich bin. Als sie vom Voltaire Programm hörte, fand sie das viel besser, hatte aber trotzdem noch Zweifel.
Auch ich selber war innerlich zerrissen und habe viel über die Vor- und Nachteile nachgedacht:
"Durch einen Auslandsaufenthalt lerne ich die Sprache schneller und einfacher als in der Schule, und das ist es, was ich wirklich möchte." - "Aber was ist wenn deine Gastfamilie schrecklich ist?" - "Ach Quatsch! Wenn sie am Voltaire Programm teilnimmt, kann sie nur nett sein!" - "Aber sechs Monate können ganz schön lange dauern! Außerdem warst du noch nie länger von zu Hause weg als zwei Wochen!" - "Um so länger ist die Zeit, in der ich reife! Dazu kommt, dass ich ein eigenes Handy bekomme, ferner ein Konto mit 500 €, die ich ausgeben darf. So fühle ich mich erwachsener!" - "Du spinnst! Du vergisst dein Umfeld, das sehr traurig sein wird, wenn du nicht mehr da bist!" - "Okay, ich muss zugeben, dass ich es vermissen werde, aber naja ... Dafür werden wir noch glücklicher sein, wenn wir uns wiedersehen! Zudem verpasse ich keine wichtigen Prüfungen, wenn ich in Deutschland bin!" - "Na gut! Du hast gewonnen, die Vorteile überwiegen wirklich!"

Und so habe ich mich entschieden: ein sechsmonatiger Aufenthalt in Deutschland war wirklich die Chance meines Lebens. Und warum Deutschland? - Nun ja, meine erste Deutschlehrerin entfachte in mir das Feuer für die deutsche Sprache, und meine zweite ließ dieses noch wachsen. Außerdem möchte ich mithelfen, mein Land mit seinem "Feind" zu versöhnen. Es kann doch nicht sein, dass zwei Nachbarländer, die dazu noch beide zur EU gehören, weiterhin miteinander verfeindet sind.
Eine Woche vor meiner Abreise nach Deutschland konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen, meine Stadt Amiens zu verlassen. Das kam daher, dass ich viel zu viel für die Schule zu tun hatte, so, dass ich noch nicht einmal Zeit hatte, meine Koffer zu packen. Aber ich begann es zu begreifen, als die Verabschiedung von meinen Freunden näherrückte. Danach war mein großer Bruder an der Reihe, und als dies überstanden war, verabschiedete ich mich von meinen Omas und anschließend von meiner Kusine - das war besonders schwer. Eigentlich waren alle Abschiede nicht einfach zu ertragen, ich habe viel geweint.

Ende Februar war der Tag dann gekommen. Mein Gepäck wurde ins Auto verladen und los ging's. Während der Fahrt war die Stimmung merkwürdig; als ob wir in den Urlaub führen und nicht, als würden wir für sechs Monate getrennt voneinander leben.

Nach vier Stunden erreichten wir unser Ziel im Schnee. Mein Vater fragte ungefähr fünfmal, und jedes Mal falsch: "Können Sie misch sagen bitte wo isch kann finden (H)ändelstraße?" Eine weitere Stunde später waren wir da: Meine Gastmutter wartete schon an der Tür und hieß uns willkommen. Dann stellten wir uns der ganzen Familie vor, aßen zusammen und alle erhielten ihre Gastgeschenke. Am nächsten Tag musste ich mich nun auch vom Rest der Familie verabschieden. In den Augen meiner Mutter bildeten sich Tränen, und auch ich musste weinen ...

Am ersten März ging es dann in der 10. Klasse richtig los - doch leider nicht für mich, weil ich nichts verstand. Ich gewöhnte mich aber schnell an das deutsche Schulsystem, das sich sehr vom französischen unterscheidet. Der Unterricht ist beispielsweise viel mündlicher ausgerichtet, und die Lehrer haben eine bessere Beziehung zu den Schülern. Außerdem ist der Inhalt der Stunden sehr anders, so hatten wir z.B. in Sport auch so manche Theoriestunde, und einmal haben wir sogar Fangen gespielt! Das hätten wir in Frankreich nie gemacht, außer vielleicht in der Grundschule. Der Matheunterricht war für mich auch komisch. Erst lernten wir die Logarithmen, was mein Bruder im Abi macht, und dann waren Kosinus, Sinus und Tangens an der Reihe, was ich drei Jahre zuvor schon gelernt hatte.
Als letzter Unterschied bliebe noch anzuführen, dass deutsche Schüler in Englisch ein viel höheres Niveau haben - wodurch sich auch meine Schwierigkeiten erklären; es ist ja allgemein bekannt, dass Franzosen nicht so gut in Fremdsprachen sind. Aber die Lehrer waren sehr verständnisvoll. Das ist ist vielleicht auch ein Grund, warum mein Zeugnis so gut aussieht ...

Des Weiteren fand ich auch sehr gut, dass der Unterricht nur vormittags stattfand. Aus all diesen Gründen finde ich das französische Schulsystem wirklich doof - Schule ist wirklich nicht das Wichtigste im Leben! In Deutschland hat man nachmittags auch mal Zeit, etwas anderes zu machen.
So nutzte ich zum Beispiel meine Freizeit ausgiebig. Da war zum einen der Schulchor, an dem ich jeden Montagnachmittag teilnahm, ganz ohne meine Gastschwester. Dann gab es den Teeniekreis von unserer Gemeinde, bei dem ich mit zehn anderen Jungen und Mädchen und vier Mitarbeitern sang, bastelte, kochte, redete und insgesamt sehr viel Spaß hatte. Außerdem war ich noch im Jugendzirkus, bei dem ich fast jeden Freitag und einmal im Monat auch samstags Training hatte. Ich probierte dort viele verschiedene Sachen aus: Rola, Keulenjonglage, Akrobatik, Tanz, Feuer, Ringtrapez, Trapez, und sogar das Schwungtrapez! Im Sommer hatten wir ein zweiwöchiges Camp. In der ersten Woche stellten wir ein Programm fertig, und in der zweiten Woche präsentierten wir es in einem Zelt.
Jeden Abend um zehn vor acht sah ich mit meiner Gastschwester die Nachrichten. Zuerst schauten wir die Nachrichten für Kinder, was gut war, weil ich sie besser verstand als die folgenden eigentliche Nachrichtensendung: "Hier ist das erste deutsche Fernsehen mit der Tagesschau" ...

Sehr wichtig war mir auch mein Tagebuch, dem ich pro Tag ungefähr eine Stunde widmete. Soviel Zeit brauchte ich, um all meine Erlebnisse niederzuschreiben, Flyer und Werbungen von o.g. Aktivitäten sowie Fotos davon einzukleben. Ich wollte einfach, dass mein Tagebuch richtig schön wird.

Die deutsche Lebensweise unterschied sich doch in einigen Punkten von der französischen. Beispiel: das Essen. Neu war für mich, dass wir fast nie mit der ganzen Familie zusammen aßen. Morgens frühstückte ich mit meiner Gastschwester und ihrer Mutter, mittags aßen wir drei mit mit meinem Gastbruder, und abends war ich meist allein mit meiner Gastschwester am Tisch. Nur Sonntagmittag speisten wir alle zusammen. Bei mir zu Hause wird dagegen fast jede Mahlzeit gemeinsam eingenommen. Auch das Essen selber war ganz anders: was ich in Frankreich zum Frühstück esse (Müsli) aß ich in Deutschland abends, und zum Frühstück aß ich wiederum das, was ich normalerweise abends esse. Es gab auch nicht fünf Gänge, wie von Zuhause gewohnt, sondern es wurde alles nebeneinander angeboten.
Ein anderes Thema ist die Rolle von Frau und Mann. Ich habe den Eindruck, dass die Stellung des Mannes in Deutschland viel wichtiger ist als die der Frau. Meist sind nämlich die Frauen im Haushalt tätig. Das liegt daran, dass die Kinder schon mittags zu Hause sind und nachmittags wenig in Einrichtungen betreut werden können. Aber warum gibt es fast keine Hausmänner?

Hätte ich vor diesem Auslandsjahr geglaubt, dass ich ein Jahr später in Deutschland wohnen würde? Nein, bestimmt nicht! Und warum? Weil ich noch nie länger als zwei Wochen von meinen Eltern getrennt war und dachte, dass ich das nicht schaffen würde. Aber weil ich es geschafft habe, weiß ich nun, dass ich gereift bin. In diesen sechs Monaten habe ich viel gelernt. Natürlich kann ich jetzt viel besser Deutsch - und ich habe keine Angst mehr, Fehler zu machen!
Fazit des Voltaire Programms: einfach GROSSARTIG!!!!!"

Stichwörter: