Freiwilligendienst in Südamerika
Erfahrungen aus Montevideo, Uruguay
Ein ehemaliger Schüler berichtet über seine Zeit als Zivildienstleistender in einem Colegio in Montevideo/Uruguay.
"Bienvenido Jorge!" In bunten Lettern prangt dieser Willkommensgruß am Eingang des Colegio in Montevideo.
Sollte etwa ich gemeint sein?
Übermüdet von einem langen Flug betrete ich den Ort, der mir für die nächsten fünfzehn Monate Heimat werden sollte. Es ist Freitagnachmittag, und zig große braune Kinderaugenpaare spähen aus den Fenstern, als ich über den Schulhof laufe. Die Schüler warten gespannt auf "el alemán", den Deutschen, der die nächste Zeit in ihrer Schule arbeiten soll. An einen geregelten Unterrichtsablauf ist jetzt nicht mehr zu denken. Jeder Klasse werde ich einzeln vorgestellt, wobei ich mich einer schier unendlichen Flut von Fragen entgegengesetzt sehe.
"Gefällt Dir Fußball?", "Hast Du eine Freundin?", "Schmeckt Dir Schokolade?", "Was ist Deine Lieblingsfarbe?" "Gibt es in Deutschland keine Kämme?" (offenbar hat der Flug seine Spuren hinterlassen) sind nur einige Fragen, die mir die Kinder stellen und die ich geduldig mit Hilfe der übersetzenden Deutschlehrerin zu beantworten versuche.
Nebenbei bemerke ich, daß ich hier offensichtlich als "Jorge" ("Georg", sprich: Chorche) angekündigt bin, denn mit "Jörn", meinem eigentlichen Vornamen, spricht mich hier niemand an. Dezent weise ich meine Übersetzerin darauf hin, worauf sie meint "Jörn" sei einfach zu schwierig und überhaupt würden die beiden Punkte über dem "O" ein wenig irritieren ...
Mit dem Argument "Ich habe eine Sprache gelernt, ihr könnt wenigstens einen Namen lernen!" sollte es mir Monate später doch noch gelingen, die Schulgemeinschaft zu überzeugen, es wenigstens zu versuchen, meinen Namen auszusprechen. Von da ab hörte ich auf alles, was mit "J" anfing und mit "N" aufhörte, was dazwischen war, überhörte ich geflissentlich.
Ich war ausgezogen, den sog. "Anderen Dienst im Ausland" zu leisten, einen offiziell anerkannten Ersatz für den Zivildienst in Deutschland. Diese selbst unter Jugendlichen wenig bekannte Alternative dauert zwei Monate länger als der Zivildienst, im Moment also 15 und wird zudem nicht bezahlt. Auch Reise- und Versicherungskosten gehen in aller Regel zu Lasten des Dienstleistenden. Es gibt knapp 200 anerkannte Trägervereine, die den "Anderen Dienst im Ausland" vermitteln und etwa 1500 Plätze anbieten. Dies sind oft christlich orientierte Einrichtungen wie das Diakonische Werk, Kirchengemeinden und Missionswerke, aber auch solche aus der Friedensbewegung oder dem Entwicklungshilfebereich. Eine Ausnahme bilden die "Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners", die ebenfalls als Träger für den "Anderen Dienst im Ausland" anerkannt sind.
Für mich stand Lateinamerika als Wunschkontinent fest, woraufhin ich mich mit den entsprechenden Trägern in Verbindung setzte. Doch oftmals war dort eine abgeschlossene Berufsausbildung, aktive Mitarbeit in einer Kirchengemeinde o.ä. Voraussetzung für einen Einsatz. Da ich diese nicht erfüllen konnte, war es unmöglich, einen Platz zu bekommen. Nun hatten die "Freunde der Erziehungskunst" eine ganze Anzahl von Dienststellen im Ausland, überwiegend in Waldorfeinrichtungen, doch zu diesem Zeitpunkt noch keine in Lateinamerika. Es bestand jedoch die Möglichkeit, weitere Dienststellen beim Bundesfamilienministerium anerkennen zu lassen und so fragte ich bei den Waldorfeinrichtungen in Lateinamerika an, ob nicht Bedarf an einem "Zivi" bestehe.
Die erste bejahende Antwort erhielt ich aus Montevideo in Uruguay.
Nun konnte ich glücklicherweise auf die Kontakte von einer Bekannten zurückgreifen, deren Schwester an der Schule in Montevideo unterrichtet. Nachdem diverse Papiere beim Familienministerium eingereicht wurden, wurde das Colegio in Montevideo schließlich als Dienststelle für den Anderen Dienst im Ausland anerkannt. Die gesamte Planung von der Idee bis zu Ausreise hat dabei über anderthalb Jahre gedauert.
Aber welche Motive gibt es überhaupt, seine gewohnte Umgebung hinter sich zu lassen und für 15 Monate ins Ausland zu gehen? Genügend! Sei es die einzigartige Erfahrung, eine bis dahin fremde Kultur und Lebensweise hautnah mitzuerleben, eine neue Sprache zu erlernen; sei es die Lust am Abenteuer oder der Wunsch, etwas wirklich Sinnvolles tun zu wollen. All diese Aspekte flossen in meine Entscheidung mit ein, erfordern u. a. allerdings auch ein gewisses Maß an Flexibilität, und die Fähigkeit, seine Ansprüche in gewissen Bereichen ein wenig herunterschrauben zu können.
Das Colegio ist eine Waldorfschule, 1969 von einem deutschen Ehepaar ins Leben gerufen. Sie besteht aus einer Grundschule mit sechs Klassen und knapp 100 Schülern sowie einem Kindergarten mit über 100 Kindern.
Meine Aufgaben dort waren sehr vielfältig und wuchsen mit der Erfahrung und den Sprachkenntnissen. Meine in einem zweimonatigen Volkshochschulkurs ein Jahr zuvor erworbenen Spanischkenntnisse waren eher bescheiden, Besonderheiten des "Castellano" bei Aussprache und Grammatik taten ihr übriges.
Meine wichtigste Aufgabe war zunächst das Läuten der Schulglocke. Bis zu neun mal täglich betätigte ich dieses Instrument, entweder grenzenlosen Jubel (bei Pausenbeginn) oder tiefe Trauer (bei Unterrichtsbeginn) auslösend. Handwerkliche Tätigkeiten wie z.B. Abschmirgeln des Schulzauns und Neulackierung folgten. Ich half im Garten und in der Küche; eigentlich bei allem, was gerade so anfiel. Auch wenn zu Beginn eine sprachliche Hürde bestand, rissen sich die Kinder um mich als Spielpartner und so spielte ich in den Pausen "Polyladron" (uruguayische Fassung von Räuber und Gendarm, äußerst populär), Völkerball, versuchte mich auf Stelzen etc.
Nach einigen Wochen wurde ich dann zum Einkaufen geschickt, ging auf den Markt Gemüse für die Schulküche holen, verkaufte in den Pausen Kekse und half im Werk- und Musikunterricht, um nur einige Beispiele zu nennen. Nach knapp einem halben Jahr habe ich dann einem Teil der sechsten Klasse Nachhilfe in Englisch und in Ausnahmefällen Vertretungsstunden in der zweiten Klasse gegeben. Letztere endeten allerdings meist damit, daß die Lehrerin vom Klassenraum nebenan vorbeikam, um sich nach dem Grund für den Lärm zu erkundigen.
Öfter bot sich auch die von mir gerne genutzte Möglichkeit, die Kinder auf Ausflügen und kurzen Klassenfahrten zu begleiten, was immer ein besonderes Erlebnis war. Ansonsten war ich einfach "Mädchen für alles", habe eine Zeitlang die Kinder zur Bushaltestelle begleitet, nachdem es Übergriffe von Straßenkindern auf Schüler des Colegio gegeben hatte. Außerdem habe ich die Auswahl meines Nachfolgers koordiniert, Briefe von Bewerbern beantwortet usw.
Mir wurde oft bestätigt, dass neben den konkret verrichteten Arbeiten meine Präsenz in der Eigenschaft als internationales Element oder in gewissen Dingen als Vorbild für die Kinder ungeheuer wichtig war. Sei es, um Vorurteile abzubauen, die Nützlichkeit des Deutschunterrichtes zu demonstrieren oder einfach nur zu zeigen, daß Blockflötenspiel nicht zwangsläufig "uncool" sein muss.
Uruguay ist für südamerikanische Verhältnisse ein recht kleines Land. Mit gut 3 Mio. Einwohnern auf knapp 180.000 km² liegt Uruguay eingeklemmt zwischen Argentinien und Brasilien, im Osten vom atlantischen Ozean begrenzt, im Süden vom Rio de la Plata. 1516 erreichten die ersten Europäer dieses Gebiet, 1825 wurde die Unabhängigkeit erreicht. Seit Ende der letzten Militärdiktatur 1984 wird das Land wieder demokratisch regiert. Die Bevölkerung ist zum größten Teil europäischen, darunter insbesondere spanischen und italienischen Ursprungs. Auch einige deutsche Einwanderer (davon nur ein verschwindend geringer Anteil Nazis nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches) gab es, wovon noch heute Ortsnamen wie Nuevo Berlin oder Colonia Gartental zeugen. Die Charrúa-Indianer sind schon seit langem so gut wie ausgerottet, nur einen relativ kleinen Prozentsatz Schwarzer, Nachfahren der überwiegend in Brasilien eingesetzten Sklaven, gibt es noch. Die allermeisten Menschen sind Europäern gegenüber sehr freundlich und aufgeschlossen und freuen sich, dass ein solcher sich überhaupt in ihr kleines Land verirrt hat.
Landwirtschaft ist die wichtigste Einnahmequelle, darunter auch die Viehzucht mit exzellentem Rindfleisch. Leicht gewellte Hügel prägen die Landschaft im Landesinneren, das größtenteils als Weideland genutzt wird. Nur ab und zu unterbricht eine Baumgruppe die endlose Weite in dieser dünn besiedelten Gegend.
Ansonsten hat Uruguay eine Menge schöner Strände für jeden Geschmack anzubieten, vom Mittelpunkt des südamerikanischen Jet-set, dem mondänen Punta del Este (auch Zufluchtsort von Reemtsma-Entführer Drach), bis zur alternativen Hüttenansammlung Cabo Polonio.
Die Hauptstadt Montevideo, ca. 1,3 Mio. Einwohner, ist eine richtige Mischung aus südamerikanischen und europäischen Einflüssen, dabei liebenswert altmodisch, aber trotzdem lebendig. Sie ist mir während meines Aufenthaltes dort genauso ans Herz gewachsen wie das Colegio, und spätestens als die Kinder mir nach einer kleinen Abschiedsfeier "no te vayas" ("geh’ nicht") zuriefen, wusste ich, dass ein Teil von mir in Montevideo bleiben würde.
Jörn Fischer
Mehr in seinem Buch Internationale Freiwilligendienste und hier Grundsätzliches zu Südamerika.