Idealistisches Dorf in Israel

Der Kibbuz - Ein Modell mit Zukunft?

Vorbemerkungen von Dr. Amnon Neu

»Der Kibbuz ist ein Dorf, das auf sozialistischen Idealen basiert. Die Ideale sind inzwischen in der heißen Sonne des Südens zerflossen und den Realitäten angepasst. Dennoch ist davon etwas übriggeblieben, das sich auch heute noch zu besichtigen lohnt.«
(M. Wagner »Gebrauchsanweisung für Israel«)

Gemeinsamkeit und Solidarität

Der Staat, seine Ideologie, seine innerliche wie äußerliche Anziehungskraft, der Stolz seiner Begründer und deren Nachwuchses, all dies ist eng verbunden mit der Idee des Kollektivs. Der Kibbuz, die Verwirklichung des jüdischen Daseins im Land der Väter, ist längst zum untrennbaren Symbol des Staates geworden. Es ist die Erfolgsgeschichte einer auf dem sozialistischen Gedankengut fußenden Idee, die sich in der damaligen Atmosphäre des Aufbruchs und des notwendigen Aufbaues lückenlos einfügen ließ. Präsentiert wurde das Bild eines kreativen, selbständigen jüdischen Lebens, das sich nun als deutliches Gegenstück zu den gängigen, grassierenden Vorurteilen jüdischen Lebens in der Diaspora zeigte. Jüdische Arbeit, jüdisches Schaffen für den entstehenden jüdischen Staat wurden aufopferungsvoll geleistet.

Im Mittelpunkt stand die Gemeinsamkeit, die Solidaritätsgemeinschaft. Die Bereitschaft, zu geben, bezog sich nicht nur auf seine eigene Lebenssphäre, sondern auch auf den allgemeinen staatlichen Rahmen. Die Kibbuzbewegung war nicht nur ein integraler Bestandteil des Staates, sie war gleichzeitig auch eine Quelle seiner Selbstverwirklichung. Der Aufbau von Siedlungen, die Urbarmachung der Wüste, die Betkämpfung von Sumpfgebieten, der Aufbau einer effizienten Landwirtschaft, die Absorption von Neueinwanderern, die enge Einbindung in die Verteidigungsarmee, all dies und noch mehr wurde zur Säule des Kibbuz-Selbstverständnisses im jungen Israel. Es ging sogar soweit, daß man gelegentlich davon sprach, daß eine Streichung des Kibbuz aus der israelischen Landschaft mit der Eliminierung des Staates gleichzusetzen wäre.

Heute stehen wir vor einer völlig veränderten Situation. Quantitätsmäßig zählt die Kibbuzbewegung immer noch ca. 280 Siedlungen mit ca. 120.000 Mitgliedern. Über den wahren Zustand der Bewegung liefern diese Zahlen jedoch keine Auskunft. Eine der führenden Personen der Kibbuz-Bewegung und eine der Säulen der Arbeiterbewegung Israels, Itzchak Ben-Aharon, spricht heute unverblümt vom Tod des klassischen Kibbuz. In der Tat, die Pioniere des Landes, die ihre neuen Siedlungen mit viel Selbstaufopferung errichteten, hätten heute ihre Grundidee nicht mehr wiedererkannt. Private Institutionen, bezahlte Arbeitskräfte und der Verkauf von Gemeinschaftseigentum sind keine Seltenheit mehr. Die Wirtschaftlichkeit der Siedlungen ist zum Primat der Gemeinschaftsentscheidungen geworden. Die Auflösung von kollektivem Gemeinschaftsgut zugunsten einer verstärkten Selbstverwirklichung ist unübersehbar. Was bereits in ganz Israel voll im Gange ist, greift allmählich auch auf die letzten Bastionen des gemeinschaftlichen Denkens und Handelns über. Die Gesellschaft des »Wir« entwickelt sich immer mehr zu einer des »Ich«. Eine harte Bewährungsprobe für eine Gesellschaftsform, in der der Kollektivgedanke zur Basis eigenen Daseins zählte.

Natürlich, der Prozeß der Kibbuzumwandlung ist nicht völlig neu. Der Kibbuz war schon immer ein fester Bestandteil der israelischen Gesellschaft. Ein Inseldasein konnte man nie bestreiten. Die Entwicklung des Staates Israel zu einem modernen Industriestaat mit einer westlich orientierten Lebensform ist an den Kibbuzim nicht spurlos vorbeigegangen. Eine gewisse Anpassung des Kibbuzes an die Entwicklung, die von einem verstärkt auftauchenen Individualismusdrang begleitet wurde, war auch vonnöten.
Hat der Kibbuz noch eine Zukunft? Zweifelsohne, der Kibbuz braucht neue, gesellschaftsadequate Inhalte. Er braucht eine neue Vision. Er muß eine neue Gemeinsamkeit kreieren, die nicht erdrückend ist, sondern genügend Raum für die persönliche Erfahrung läßt. Eine gewisse Privatisierung läßt sich nicht mehr vermeiden und sollte auch nicht mehr mit allen zur Verfügung stehenden Energien bekämpft werden. Vonnöten ist die Akzeptanz der Privatisierungstendenz als unvermeidbares Phänomen, das nun eine größere Verantwortung des Einzelnen erfordert. Grundvoraussetzung für das weitere Bestehen ist der Wille und das Interesse für den Fortbestand des Kollektivs. Dies verlangt Standfestigkeit, den Glauben an die eigene gesellschaftliche Bestimmung und eine Standhaftigkeit in einer sich verändernden Gesellschaft, in der der Kollektivgedanke grundsätzlich an Attraktivität und Relevanz verloren hat.

 

Dr. Amnon Neu, Botschaftsrat an der Botschaft des Staates Israel, Bonn