Wie alles begann
»Der Kibbuz«, so schrieb Amos Oz, israelischer Dichter und Preisträger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1992, »ist ohne Buch und Propheten entstanden.«
Die erste Siedlungen
Jene Pioniere, die 1909 den Boden bei Um Dschundi am See Genezareth bearbeiteten, hatten anderes im Sinn als religiöse Ideologien und theoretische Kleinkrämerei. Ihr Ziel war die praktische Umsetzung einer Idee, orientiert an den Notwendigkeiten der täglichen Landarbeit und des Erhalts ihrer Gruppe.
Sie nannten ihre Siedlung 1910 »Degania«, Kornblume. Erst später wurde aus der Kvutza (Hebräisch: »Gruppe«) der Kibbuz Degania und mit ihm das Wort Kibbuz zum weltweit bekannten Begriff für die israelischen Kollektivsiedlungen. Die Idee hinter ihrem Vorhaben war ein Traum: der Aufbau einer Gemeinschaft von freien, gleichberechtigten Menschen, in der das marxistische Ideal »Jeder nach seinen Fähigkeiten und jedem nach seinen Bedürfnissen« eingelöst wäre; deren Mitglieder ihren Lebensunterhalt durch praktische Arbeit verdienten und ihren Erlös in die Gruppe einbrachten; wo jedes Stück Inventar, bis hin zur Kleidung, Allgemeinbesitz wäre und die Kinder vom Kollektiv erzogen würden. Und dies alles sollte in Palästina stattfinden, denn dahin, so hatte Theodor Herzl 1896 in seinem Buch »Der Judenstaat« gefordert, sollten die in alle Welt verstreuten Juden zurückkehren und die »Wüste zum Blühen bringen«. Aber die Realität machte es den Kibbuzpionieren nicht leicht.
Wegen zunehmender Diskriminierung in ihrer Heimat waren schon vor Beginn des Jahrhunderts Juden im Rahmen der ersten großen Einwanderungswelle (Alijah) aus Osteuropa nach Palästina eingewandert. Ein Teil von ihnen hatte Arbeit auf jüdischen Farmen gefunden, die mit finanzieller Hilfe des Barons von Rothschild eingerichtet worden waren. Hier allerdings entwickelte sich eine Arbeitsstruktur, die dem Siedlungsideal der späteren Kibbuzgründer zutiefst widersprach: auf den Höfen wurden jüdische und arabische Lohnarbeiter beschäftigt, die in jeder Hinsicht abhängig von ihren Arbeitgebern waren. Den Kibbuzpionieren schwebte dagegen eine jüdische Gemeinschaft vor, deren Lebensgrund darin bestand, den Boden durch ihrer eigenen Hände Arbeit zu bewirtschaften - ohne Ausbeutung anderer, ohne die Anstellung Lohnabhängiger. So hatte es der zionistische Philosoph Aharon David Gordon, Tolstoi im Hintergrund, proklamiert, indem er von der »Heiligkeit der Arbeit« und der untrennbaren Dreiheit von Mensch, Arbeit und Natur sprach.
Malaria und Hungersnöte
Der Weg zur Verwirklichung der Kibbuzidee war hart und forderte Opfer: Malaria und Hungersnöte, große Hitze und bewaffnete Auseinandersetzungen mit ihren arabischen Nachbarn trieben nicht nur einige Siedler in die Resignation; viele bezahlten das Experiment mit dem Leben. Aber auch der Alltag war alles andere als genußreich: die Kibbuzniks besaßen nicht viel, oft wohnten sie jahrelang in schäbigen Hütten und Zelten, bis sie genügend erwirtschaftet hatten und die ersten festen Häuser errichten konnten. Die wenigen lebensnotwendigen Dinge waren Allgemeinbesitz. Im Kleiderschrank gehörte die Kleidung allen, sogar die Unterwäsche war kollektives Eigentum. Das Leben verlief immer in der Gemeinschaft, so daß der Kibbuznik keine Zeit für sich selbst fand. Es war kein Platz im Kibbuz für den Ausdruck persönlichen Stils oder Geschmacks. Gleichzeitig lösten die Gründer aber ihre Vorstellungen vom Gruppenleben ein: die freie Liebe galt als angemessene Form der Beziehung, die Gemeinschaft wurde zum Ersatz für die Familie.
Kibbuz-Degania, Modell und Vorläufer für die heute etwa 280 Kibbuzim, wuchs mit diesem Konzept so schnell, daß schon elf Jahre nach seiner Übernahme vom Jüdischen Nationalfonds (1909) Degania »B« entstand - sein direkter Ableger. Diese »Zellteilung« erfolgte, weil die Mitglieder fürchteten, ein weiteres Wachstum könne die Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen gefährden. Bis 1916 bildeten sich neben Degania vier weitere Kibbuzim.