Kibbuzbewegung in den achtziger Jahren
Mitte der achtziger Jahre gab es über 270 Kibbuzim, deren 141.000 Einwohner etwa 3,5 % der Gesamtbevölkerung ausmachten. Obwohl die Anzahl der Kibbuzmitglieder relativ gering war im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung, kam ihnen dennoch eine überdurchschnittlich große Bedeutung zu. Sie produzierten fast 50 % der landwirtschaftlichen Erzeugnisse, waren maßgeblich an der Entwicklung neuer Technologien beteiligt und in den höheren Rängen des Militärs überrepräsentiert, was in der innerisraelischen Diskussion auch vom Gegner respektiert wurde. Der Anteil der Kibbuzim an der Gesamtproduktion aller Wirtschaftsbetriebe war mit 10 % immer noch dreimal so hoch wie es im Verhältnis zur Einwohnerzahl der Durchschnitt wäre. Die Größe der Kibbuzim schwankte zwischen 20 Mitgliedern bei den ganz jungen und 1400 bei den älteren, etablierten Siedlungen.
Wirtschaftliche Entwicklung und ... Krise
Je nach Größe und wirtschaftlichem Erfolg waren die Lebensbedingungen unterschiedlich, im Großen und Ganzen aber - bis auf die Situation in einigen Pioniersiedlungen - überhaupt nicht mit den Entbehrungen und der Armut der ersten Jahre vergleichbar. In den Kibbuzim wurden in den achtziger Jahren nicht mehr ausschließlich landwirtschaftliche Erzeugnisse hergestellt. Ein großer Bereich der Kibbuzindustrie befaßte sich mit Entwicklung und Bau von Bewässerungsanlagen, die unerläßlich sind, um die »Wüste zum Blühen zu bringen«.
Darüber hinaus arbeiteten in vielen Kibbuzim bereits Fabriken für ein breites Spektrum von Produkten, von Möbeln bis zum Kleincomputer, die in der israelischen Gesellschaft Nachfrage fanden. Allerdings hatte die Kibbuzbewegung mit einer Reihe schwerer wirtschaftlicher Probleme zu kämpfen, die sich auf das Leben der Kibbuzmitglieder und - in abgeschwächtem Maße - ebenso auf das der Volontäre auswirkte. Aufgrund der anhaltenden Staatsverschuldung wurde seitens des Staates der Konsum der israelischen Bevölkerung gedrosselt. Als Mitglieder der israelischen Gesellschaft wurden die Kibbuzim automatisch in diesen Prozeß miteinbezogen.
Folge: in den Kibbuzim hergestellte Konsumgüter hatten eine geringere Nachfrage, die Produktionsleistung sank. Darüberhinaus gerieten einige Siedlungen, besonders kleine und junge Kibbuzim, durch die Zinskrise in erhebliche Finanzschwierigkeiten. Kapitalstarke Kibbuzim versuchten zwar mit Finanzspritzen auszuhelfen, aber die Misere ließ sich nicht von heute auf morgen beheben. Innerhalb der Vereinigen Kibbuzbewegung gab es Mitte der achtziger Jahre fünfzig Gemeinschaften, die in ausgesprochene Finanznot geraten waren. Diese Situation ging an den Volontären nicht spurlos vorüber. Auch sie wurden mehr gefordert. Deutlichster Ausdruck der veränderten Lage war damals die Tatsache, daß beide großen Kibbuzverbände eine maximale Arbeitszeit für Volontäre von 48 Wochenarbeitsstunden zuließen.
Diese Fakten gaben allerdings kein ausgewogenes Bild von der sozialen und ökonomischen Stellung der Kibbuzim im israelischen Alltag. Sie galten in manchen Kreisen als privilegiert, denn die ökonomische Krise traf vor allem die Schichten mit niedrigem und mittlerem Einkommen, also die kleinen Handwerker, Ladenbesitzer und Arbeiter. Sie blickten je nach politischer Couleur entweder mit Neid oder mit Bewunderung auf die Kibbuzniks, ihre vergleichsweise humanen Arbeits- und Lebensbedingungen und die materiellen Errungenschaften, die diese sich durch die Arbeit von Generationen - was natürlich heute nicht so sehr gesehen wird - geschaffen haben.
Jüngste Entwicklung
Heute leben nur noch ca. 2,7 % der israelischen Gesamtbevölkerung in rund 280 Kibbuzim, das sind etwa 129.000 Menschen. Die meisten zählen 300 bis 400 Mitglieder, zusammen mit Angehörigen, Kindern und Alten also fünfhundert bis sechshundert Bewohner (kleinster Kibbuz: 40 Mitglieder, größter: 1000 Mitglieder). Über die Hälfte der heute existierenden Kibbuzim entstand bereits vor der Gründung des Staates Israel. Überraschend viele Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens waren selbst Kibbuzmitglieder oder sind es noch. Aus rein landwirtschaftlichen Siedlungen sind inzwischen längst nach marktwirtschaftlichen Kriterien arbeitende Erwerbsbetriebe mit Industrie und Hotelbetrieben (Kibbuz-Gästehäuser) geworden, um des Überlebens willen bestrebt, mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung Israels Schritt zu halten. Die Kibbuzideologie hat sich im Laufe der Jahre also an die Mechanisierung der Landwirtschaft und das Aufkommen industrieller Fertigungsbetrieben anpassen müssen, die von den Mitgliedern mehr Sachkenntnis erfordert als die »körperliche Arbeit auf dem Feld«. Werten wie Wohlstand, Prestige, wirtschaftlicher Erfolg und Lebensstandard wird von den Kibbuzmitgliedern heute mehr Bedeutung beigemessen als noch während der Pionierzeit. Das blieb nicht ohne Auswirkungen auf die Familiengemeinschaften innerhalb der Kibbuzim: die Kindererziehung rückte immer mehr in den Vordergrund, die Wohnung wurde aufwendiger und individueller eingerichtet, die Erziehung der Kinder war wieder Sache der Eltern (Mutter).
Auch äußerlich hat sich manches geändert, wie an Kleidung, Haartracht, Musikgeschmack und Sexualverhalten - vor allem der jungen Kibbuzmitglieder - abzulesen ist. Mit dieser Liberalisierung einher ging die verstärkte Bereitschaft, offen Kritik an den Zuständen im Kibbuz zu äußern. Es ließe sich darüber streiten, ob sich die Kibbuzim selbst aktiv geändert haben, um unter gewandelten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen noch attraktiv zu sein, oder ob der »frische Wind« von außen an die herangetragen wurde: via Kabelfernsehen und Video, ausländische Freiwillige, das regional organisierte Oberschulsystem oder die Jugendbewegungen in den Städten. Die Bereitschaft, dem Kibbuz - besonders nach Ableisten des Militärdienstes - für immer den Rücken zu kehren, hat jedenfalls sprunghaft zugenommen. All das legt den Schluß nahe, daß sich die Kibbuzim heute in einer - je nach gesellschaftspolitischer Optik heilsamen oder schädlichen - Umbruchphase befinden.