Bolivianischer Heiligabend

Weihnachten in Bolivien

Plastikweihnachtsbäume, Grippenspiele und einfaches Essen ohne Geschenke

Kaufstress und blinkende Reklameschilder

Nachdem ich am 24. Dezember mit Verspätung um acht Uhr abends und nach zwölfstündiger Busreise wieder in der Mission ankam, blieben mir ganze zehn Minuten, um mich zu duschen, den Weihnachtsanruf meiner lieben Familie abzuwimmeln, meine Sachen aus- und wieder einzupacken, um dann anschließend zur Kapelle „La Asunta“ zu eilen. Dort begann nämlich um 20:30 eine Weihnachtsmesse, für die ich mit Hilfe der Idente-Jugend ein Theaterstück und einen Tanz mit meinen Schülern der „vacaciones útiles“ vorbereitet hatte. Da ich wegen meiner Reise nach Santa Cruz schon bei der Generalprobe nicht anwesend war, musste ich also wenigstens bei der Uraufführung dabei sein. Die Jugendlichen hatte während meiner Abwesenheit eine wunderschöne Krippe aufgebaut, und obwohl den Engelchen des Öfteren die Flügel verloren gingen und das Gloria der Hirtenknaben eine halbe Oktave tiefer als gewöhnlich erklang, fand ich die Messe sehr gelungen.
Die „Juventud Idente“ gehört keiner speziellen Pfarrei an. Trotzdem organisiert sie neben regelmäßigen Säuberungsaktionen die Advents- und Weihnachtsaktivitäten in der Kapelle „La Asunta“. Dazu zählt auch die neuntägige „posada“ vom 15. bis zum 24. Dezember, im Rahmen derer jeden Abend eine Marienstatue von der Kapelle zu einem zuvor bestimmten Haus des Wohnviertels mit begleitenden Weihnachtsliedern und Rosenkranzgebet getragen wird. Zwei Jugendliche verkleiden sich als Josef und Maria und bitten mit einem 200 Jahre alten Lied (es stammt noch von den Jesuitenpatres, die im 17. Jahrhundert die Chiquitania christianisierten) symbolisch um Einlass in das Haus. Gewöhnlich schließen sich viele Menschen des Viertels der Prozession an, um in dem jeweiligen Haus an einer kleinen Andacht und anschließendem Essen auf Kosten der dort wohnenden Familie teilzunehmen. Es hat mich sehr beeindruckt, wie andächtig die Menschen des Viertels die gemeinsame Vorbereitung auf Weihnachten begehen.
Das Weihnachtsfest selbst wird im engen Familienkreis gefeiert, und die Abwesenheit eines Mitgliedes werten die Menschen als schlechtes Omen für das kommende Jahr. Bereits einige Tage vor Weihnachten sind die Häuser feierlich mit grünen Palmenzweigen und Lichterketten dekoriert, auch der blinkende Santa Claus aus den Staaten hat hier in vielen Häusern bereits seinen festen Platz gefunden, ebenso wie Lametta-geschmückte Plastikweihnachtsbäume. Heiligabend gehen die Familien nach der letzten „posada“ geschlossen in die Kirche; um Mitternacht wird dann mit gegorener „chicha“ (Maisbier) auf das Fest angestoßen. Erst am nächsten Tag teilt man zunächst in der Familie, danach aber auch an Bekannte und Nachbarn kleine Geschenke aus und es wird ein Weihnachtsessen zubereitet. In welchem Maße dies stattfindet, hängt natürlich von der finanziellen Situation jeder Familie ab. Nicht wenige meiner Schüler wussten auf Nachfrage hin gar nicht, dass man sich zu Weihnachten etwas schenkt.

Nach der Messe wartete vor der Kapelle bereits ein Taxi, um die Schwestern und mich in das 20km entfernt liegende Missionarshaus zu fahren, in dem wir bereits die Zeit im Camp verbrachten. Dort habe ich dann mit den drei Schwestern, vier Brüdern und zwei bolivianischen Freiwilligen aus Santa Cruz mit einem gemeinsamen, einfachen Essen Heiligabend verbracht.

Erster Weihnachtstag

Den ersten Weihnachttag haben wir genutzt, um bereits früh morgens eine fünfstündige Wanderung durch das scheinbar endlose Grundstück Internats (immerhin 6000 Hektar) zu unternehmen. Obwohl die Brüder mit Hilfe der Internatsschüler in diesem Jahr drei riesige neue Weiden angelegt haben, erscheinen diese dem begrenzenden Urwalddickicht unterlegen zu sein; unaufhörlich sind die Grenzzäune aus stabilen Holzpfosten und Stacheldraht dem vordringenden Vegetationsdickicht ausgeliefert, und nur tägliche Knochenarbeit mit der Machete bewahren die Weidegründe davor, sich wieder in undurchdringlichen Dschungel zu verwandeln. Die Graslandschaft wird vereinzelt durch schattenspendende Bäume und Sträucher unterbrochen, die dem Vieh ein wenig Schutz vor der bereits dunstigheißen Sonneneinstrahlung gewähren; ein künstlich angelegtes Dickicht mit einem kleinen, schlammigen Teich und Salzlecksteinen bietet dem einheimischen, sehr robusten Vieh den einzigen Komfort, den es neben dem gesäten Gras benötigt. Bereits um zehn Uhr morgens erreicht die Luft aufgrund der Hitze und der Vegetationsmassen ein Feuchtigkeitsmaximum von fast 90%, so dass sich die geschlossene Baumlinie am Horizont in einer Wasserdampfglocke verliert und verschwommene, schemenhafte Umrisse annimmt.

Neben dem vereinzelten Muhen einer Kuh, dem auf- und abschwellenden Gekläffe einiger halbwilder Hunde und dem Geräuschteppich des Dschungels aus Vogellauten und Affengekreische ließ sich an jenem Morgen in der Ferne leises Donnergrollen vernehmen; es würde wohl im Laufe des Tages ein Gewitter und Regenfälle geben, die sämtliche Weiden kurzfristig komplett unter Wasser setzen können. Plötzlich schien der Erdboden zu erbeben; eine Herde von zweihundert Tieren, von den Hunden aufgescheucht und die Präsenz so vieler Menschen nicht gewöhnt, setzte sich in Richtung des zentralen Dickichts in Bewegung; die weiß-beigen Leiber standen in merkwürdigem Kontrast zu den olivgrünen Grasflecken, die zwischen den mächtigen Tierkörpern aufleuchteten, aus tiefschwarzen Augen warfen uns die behörnten Kühe angstvolle und misstrauische Blicke zu. Schon bald begannen die ersten Tropfen zu fallen, so dass wir von der anstehenden Regenflut zurück ins Haus getrieben wurden. Wir versammelten uns um den großen, selbstgezimmerten Holztisch in der geräumigen Küche, um bei Kaffee und selbstgebackenen Weihnachtskeksen dem Regen zu lauschen, der auf das Dach prasselte und gegen die Fensterscheiben klatschte. Langsam kühlte sich die kurz zuvor noch erdrückende, heiß-feuchte Luft ab, und für einige Stunden mussten wir uns sogar wärmende Pullover überziehen ...
So habe ich in dem Internat eines der ruhigsten Weihnachtsfeste meines Lebens ohne Geschenke, Kaufstress und blinkende Reklameschilder verbracht.

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