Von Mini- und Riesengitarren

Gastauftritt des Dorforchesters

Ein Augenblick, der lange im Gedächtnis bleibt

Nach einer kurzen Nacht (wir fanden es unwiderstehlich, trotz unserer Müdigkeit das Nachtleben in Santa Cruz etwas auszukundschaften) holte uns früh morgens ein Bus ab, um uns in das 300-Seelen-Dorf Santa Rosa zu bringen. Dort kamen wir zu dem für elf Uhr angesetzten Konzert fast zwei Stunden zu spät an – nach hastigem Stimmen der Instrumente rannten wir zu der kleinen Kirche, die seit drei Stunden bei drückenden 40 Grad mit der gesamten Dorfbevölkerung gefüllt war. Auf dem Weg dorthin wunderten sich einige kleine Kinder über unsere Geigen, die sie als „guitaringas“ (Minigitarren) bezeichneten, sowie über Valentins Cello, welches sie als „guitaranga“ (Riesengitarre) identifizierten. Unser einstündiges Programm strapazierte die ermüdeten und durstigen Zuhörer so sehr, dass wir auf jegliche Zugabe verzichteten und den Bewohnern erlöst aus der unmenschlichen Hitze ins Freie folgten. Dort wurden auf dem Vorplatz von den Dorfjugendlichen traditionelle Tänze zu lauter Tanzmusik aus zwei Lautsprechern aufgeführt; da kam uns die Idee, die Tänzer mit Life-Musik zu versorgen, und bald tanzte das ganze Dorf, Jung und Alt, unter der prallen Mittagssonne zu den „chovenas“ (traditionelle Tanzmusik), von denen wir sicher ein Dutzend auswendig spielen konnten. Ich habe mich so glücklich wie nur selten gefühlt – sicher gehört dieser Augenblick zu jenen zeitlosen Momenten, die einen noch jahrelang in schwärmende Erinnerungen an die übersprudelnde Lebensfreude dieser Menschen versetzen.
Als Zeichen ihrer Dankbarkeit überreichten uns die Einwohner ein ganz besonderes Geschenk: Ein selbstgefertigtes Holzrad, welches an die Tatsache erinnert, dass Santa Rosa vor einigen hundert Jahren das erste Dorf war, in dem ein Rad hergestellt und benutzt wurde. Noch heute erfüllt diese Begebenheit die Menschen Santa Rosas mit besonderem Stolz.

Am Abend kehrten wir mit dem Bus nach Santa Cruz zurück, ersetzten die weißen Konzertroben durch unsere etwas nobler aussehende Konzertkleidung (schwarze Hose und bordeaurote Bluse), um in einer Messe in einem der reichsten Stadtteile zu spielen. Tatsächlich hatte ich bereits beim Eintritt in die moderne, stilvoll gebaute Kirche „La Macarena“ das Gefühl, eine andere Welt zu betreten: Der peinlich saubere, mattglänzende Marmorboden war im Mittelgang und Altarbereich mit dämpfenden, dunkelroten Teppichen ausgelegt, auf dem goldverzierten Altar standen geschmackvoll arrangierte Blumen und Kerzen in kunstvoll geschnitzten Kerzenständern, die stimmungsvolles Licht verbreiteten; das Licht der untergehenden Sonne fiel durch die bunten Glasfenster und warf merkwürdig fremdartige Muster auf die mit weinrotem Samt bezogenen Sessel im Altarraum; die wunderschön geschnitzten Seitenschwingtüren des Kirchenhauptschiffes waren leicht geöffnet und ließen eine luftige Abendbrise durch die Kirche ziehen; die sanften Klänge ruhiger Orgelmusik ergänzten die feierliche und andächtige Atmosphäre. Herren in makellosen schwarzen, grauen, und gemusterten Anzügen und Damen in edlen Abendkleidern saßen auf den Bänken und blätterten gedankenversunken in Gesangsbüchern oder in feines Leder gehüllten Bibeln, zwischen ihnen Kinder in niedlichen Matrosenanzügen und Kleidchen, die wohlerzogen ihre Händchen vor die gähnenden Münder hielten. Der Kontrast zu dem soeben verlassenen Santa Rosa und seinen einfachen und herzlichen Menschen erschien mir geradezu atemberaubend – wohl auch den anderen Mitgliedern des Orchesters, deren ausgelassene Fröhlichkeit aus Santa Rosa schlagartig einer angstvollen Nervosität Platz machte. Geduldig lauschte das Publikum unserem musikalischem Vortrag und bedachte uns mit wohlwollendem Applaus, obwohl die geschulten Ohren dieser High Society Boliviens sicherlich schon höheren Ohrenschmaus genossen haben. Nach der Messe bot man uns einen kleinen „Snack“ an, in Form von vegetarischer Kost, die man in verschiedenen Joghurtsaucen dippen musste. Die Jugendlichen konnten über diese komische Art des Gemüsekonsums nur unverständig lachen – sie wären über eine ordentliche „salteña“ (fleischgefüllte Teigtaschen) viel glücklicher gewesen; dass man Gemüse freiwillig und in derartigen Mengen essen kann, erschien ihnen völlig unvernünftig.

Die Eiswinde aus Argentinien zeigen wie arm die Menschen wirlich sind

Über Nacht fuhren wir mit dem Bus in die Heimatstadt zurück, wo wir Montag morgen gegen sieben Uhr ankamen – für mich gerade Zeit genug, um zu duschen, meine schon vorher bereitgelegten Unterrichtsmaterialien zu schnappen und zur Schule zu radeln. Bis zum Ende der abendlichen Orchesterprobe war ich dann den ganzen Tag über beschäftigt und befand mich am Abend in einem Zustand der völligen Erschöpfung. Mein zeitlich sehr aufwendiges Engagement im Orchester war von den Schwestern an die Bedingung geknüpft worden, dass ich den Unterricht in der Schule möglichst ohne Unterbrechung fortführen solle – so gab es auch in den nächsten Tagen keine Möglichkeit, ein wenig zu entspannen.
Im Laufe der Woche stellten sich die für die beginnende Trockenzeit typischen Eiswinde aus Argentinien ein, die Temperaturen innerhalb von kürzester Zeit von über 40 Grad auf 10 Grad abkühlen können; wenn diese Temperaturschwankungen mit den letzten, starken Regenfällen der Regenzeit zusammenfallen, verwandelt sich die gesamte Chiquitania in ein schlammiges, feucht-kaltes Loch, welches den Menschen aufgrund fehlender Kleidung und Behausung (die Häuser sind alle offen gebaut, es gibt keine Heizung) sehr zusetzt. Ein Drittel der Schülerschaft fehlte in diesen Tagen aufgrund von Erkältungen und Augenentzündungen oder einfach, weil der Schulweg über die völlig verschlammten Straßen unzumutbar ist. Viele Schüler kommen mit Decken in die Schule, da sie keine wärmende Kleidung besitzen. In der Region sagt man, das erst die Kälte zeige, wie arm die Menschen wirklich sind; für viele bedeutet der eingeschränkte Verkauf auf dem Markt erhebliche Existenzprobleme, nur wenige können sich Medikamente gegen Erkältungskrankheiten leisten, und ein Großteil der Menschen ist in regelrechte Lumpen gekleidet, um sich vor der Kälte zu schützen.

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