Gründonnerstagsprozession
Ehrfurcht und Glaube an eine höhere Macht
Das Dorf ist wunderschön: Wir trafen bei Abenddämmerung ein, um an der in völliger Dunkelheit stattfindenden Gründonnerstagsprozession teilzunehmen, die auch hier ähnlich wie in der Hauptstadt der Region abläuft. Da es im gesamten Dorf nur einige wenige Häuser mit elektrischem Licht gibt, schreibt die Tradition es vor, auf dem festgelegten Prozessionsweg Kerzen aufzustellen, die das Laufen auf den mit dicken Grasbüscheln bewachsenen Wegen erleichtern sollen. Voran schritt der örtliche Priester unter einem festlich geschmückten Baldachin, der von vier Trägern getragen wurde. Andächtiges Schweigen umhüllte die Versammlung, nur hin und wieder unterbrach ein Vogelschrei die feierliche Stille. Voller Ehrfurcht beugten die Menschen die Köpfe oder knieten auf dem feuchtwarmen Erdboden nieder, wenn wir eine der festlich geschmückten Stationen erreichten. Mit aufmerksamen Blicken lauschten sie der Predigt des Priesters, der über das Leiden Christi, seine Auferstehung und christliche Nächstenliebe sprach. Hin und wieder ließ sich ein Räuspern oder das Quengeln eines kleinen Kindes vernehmen, welches von seinen Eltern augenblicklich zur Ruhe gebeten wurde. Weihrauchduft erfüllte die Luft und vermengte sich mit dem intensiven Blütenduft der umgebenden Vegetation. Nach einer Ewigkeit, so schien es mir, erreichten wir die zentrale „plaza“ – mir war es unmöglich zu sagen, wie lange wir schweigend dahergeschritten waren. Die feierliche Atmosphäre hatte mich gebannt und für mehrere Stunden der Realität entrückt. Tiefe Achtung erfüllte mich vor der ehrfürchtigen Gläubigkeit der Menschen, eine Gläubigkeit, die trotz der manchmal fehlenden Umsetzung bestimmter Glaubensgrundsätze zumindest eine tiefe Achtung vor einer höheren Kraft enthält, eine Fähigkeit, die dem modernen Durchschnittseuropäer zwischen Karriere, Konsum und Fun schon längst verloren gegangen scheint.
Am nächsten Morgen sahen wir die grasbewachsene „plaza“ zum ersten Mal bei Tageslicht und stellten fest, dass sie rundum mit rosa, rot, gelb und weißblühenden „Toborotchis“ bepflanzt ist, jenem typischen Baum der Chiquitania, dessen Stamm wie ein kugeliger Bauch aussieht und ihm das Aussehen eines gemütlichen, rundlichen bonhomme gibt. Diese Bäume verbreiten eines intensiven Blütenduft und ergänzten die paradiesische Atmosphäre des winzigen Dorfes mit seinen strohgedeckten Lehmhütten, in dem sich schon lange nichts zu verändert haben schien. In der strahlenden Morgensonne überquerten wir die „plaza“, von Duft frischen Brotes aus der einzigen Dorfbäckerei angezogen. Wir kauften selbstgebackene „bizcochos de arroz“ (Reiskringel), „cuñapés (aus Käse und Yuka hergestelltes Gebäck) und „torta“ (Sandkuchen) und gaben uns einem ausgiebigen Frühstück hin, bevor wir die Rückfahrt antraten.