Soziale und Finanzielle Schwierigkeiten
Geschichte des „Festival de música barroca en las reducciónes de Chiquitos“
Bewahrung der Tradition durch das Dorforchester
Sowohl Karfreitag als auch Karsamstag und den darauffolgenden Ostersonntag bin ich mit den Schwestern zu den abendlichen Prozessionen gegangen, wo wir jedes Mal mehrere tausend Menschen antrafen. Zum sonntäglichen Feiergottesdienst war die Kirche bis auf den letzten Stehplatz gefüllt, ebenso wie die davor liegende „plaza“, auf der die Menschen die feierliche Ostermesse über Lautsprecher verfolgen konnten. Rückblickend fällt es mir schwer, von einer solchen Gläubigkeit unbeeindruckt zu bleiben.
Wie bereits erwähnt, besitzt die Stadt auch ein eigenes Dorforchester, welches zeitweilig sogar über die Grenzen der Chiquitania hinaus für seine recht gute Qualität bekannt ist. Die Geschichte der Orchestermusik in dieser Region ist sehr interessant: Als vor einigen Jahrhunderten die Jesuiten in den ostbolivianischen Dschungel drangen und Reduktionen gründeten, um so auf friedliche Art und Weise große Teile der Bevölkerung zu christianisieren, brachten sie auch viele Elemente der derzeitigen europäischen Kultur mit. Unter anderem stellten sie fest, dass die Einheimischen sehr musikalisch und künstlerisch veranlagt waren und in Kürze erlernten, die barocken Streichinstrumente nachzubauen und die mittelalterliche Barockmusik darauf nachzuspielen. Schon bald brachten sie eigene Komponisten hervor, die barocke Chor- und Orchesterstücke schrieben, ebenso wie Geigenbauer, die einen eigenen Baustil entwickelten und wunderschöne Streichinstrumente bauten. So wurden vor allem die Streichinstrumente Teil der traditionellen Musik, und bis heute spielen die zwölf „kaziques“ (Häuptlinge) eines jedes Dorfes zu feierlichen Anlässen alte Weisen auf der Geige. Nur sehr selten können die Menschen Noten lesen, und die meisten erlernen die alten Barockstücke von älteren Generationen nur durch das Gehör. Um das langsame Verschwinden dieser alten Künste zu verhindern, beschloss ein junger Musiker aus Santa Cruz, Ruben Dario, in den ehemaligen Reduktionsdörfern ein Projekt umzusetzen, welches er in den Achtziger Jahren in Venezuela kennen gelernt hatte: Dort wurde kriminellen Jugendlichen freie Unterkunft und Verpflegung gewährt unter der Voraussetzung, dass sie auf geliehenen Instrumenten spielen lernten, um hinterher ein Orchester zu bilden und Konzerte zu geben. Das zunächst unrealistisch klingende Projekt hatte tatsächlich Erfolg, und heute gibt das entstandene Orchester in der ganzen Welt Konzerte. Ruben Dario entschied sich, zunächst in einem kleinen Dorf mir dem Namen Urubichá zu beginnen, in dem er den Dorfrat überzeugte, Streichinstrumente für eine Gruppe Jugendlicher anzuschaffen, die unter Darios Leitung eine ansehnliche kleine Streichgruppe bildeten. Schon bald wuchs der Bekanntheitsgrad dieses Projektes, und andere Dörfer interessierten sich für die Möglichkeit, Ähnliches einzurichten. Erste Dörfer begannen, Instrumente zu kaufen und Jugendliche zu animieren, unter der Leitung von Ex-Schülern Ruben Darios darauf spielen zu lernen. Einmal im Jahr versammelte Dario alle Streichgruppen im Rahmen des sogenannten „Festival de música barroca en las reducciónes de Chiquitos“ (Barockmusikfestival der Chiquitos-Reduktionen) zum sogenannten „Orquesta de la Gran Chiquitania“ (Orchester der großen Chiquitania), und gab mit ihnen mehrere Konzerte in Santa Cruz und einigen größeren Reduktionen.
Auch in dieser Stadt gibt es seit einigen Jahren ein solches Orchester und einen Chor, die getrennte und gemeinsame Konzerte geben. Für den Chor hat die Stadtverwaltung eigens eine professionelle Chorleiterin eingestellt, die auch die Aufsicht über das Orchester führt. In regelmäßigen Abständen, meist alle zwei Wochen, kommen Musiklehrer aus Urubichá, die den Orchestermitgliedern täglichen Unterricht erteilen, sowohl einzeln als auch in Gruppen. Außerdem wird von fortgeschrittenen Schülern erwartet, dass sie Anfänger unterrichten. Zusätzlich zum Instrumentenunterricht findet jeden Abend von Montag bis Freitag eine zweistündige Tutti-Probe mit Chor und Orchester statt.
So gut die Ideen Ruben Darios auch in anderen Dörfern umgesetzt werden (in San José gibt es zum Beispiel über 50 Geigenschüler, die alle von fortgeschrittenen Schülern unterrichtet werden), kämpf unsere Stadt hier seit Beginn des Projektes mit einigen gravierenden Problemen: Es liegt am weitesten von Urubichá entfernt, so dass Informationen, Notenmaterial und Anweisungen Ruben Darios es oft zuletzt oder gar nicht erreichen; zum Beispiel kam das Notenmaterial für das letzte Musikfestival zwei Tage vor Beginn an. Auch die Lehrer werden in nur unregelmäßigen Abständen geschickt, und die Jugendlichen haben manchmal einen Monat lang keinen Unterricht. Im Gegensatz zu anderen Dörfern rekrutieren sich die meisten Chor- und Orchestermitglieder nicht unter den ärmsten Bewohnern (so wie Ruben Dario es anfänglich geplant und auch überwiegend umgesetzt hat), sondern stammen mehrheitlich aus der wohlhabenden Schicht und haben Ärzte, Lehrer und Beamte als Eltern. Die Autoritäten der Stadt unterstützen dies sogar, da die Eltern oft großzügige Spenden für Kulturprojekte der Stadt machen. Diese Jugendlichen besuchen ausschließlich Elite-Schulen, verachten Schüler anderer Schulen mit geringerem Status und wollen auch in Chor und Orchester „unter sich“ bleiben. Sie betreiben vielseitige Freizeitaktivitäten (Sport, Sprachen usw.), da sie nicht zum Familienunterhalt beitragen müssen und können nur begrenzte Zeit für die Musik aufbringen, um auch ihren anderen Verpflichtungen gerecht zu werden. Viele der Fortgeschrittenen weigern sich strikt, ihre Kenntnisse an Jüngere weiterzugeben, vor allem wenn dies „paicos“ (Bauern) sind und von Schulen wie dem Rosenhammer kommen. Unter den zur Zeit über siebzig Musikschülern befinden sich zum Beispiel nur zwei Schüler des Rosenhammers. Außerdem sind im letzten Jahr viele gute Instrumentalisten nach dem Schulabschluss nach Sucre gezogen, um dort an einer Privatuniversität zu studieren. Dazu kommt noch, dass das Orchester neben den sporadisch anwesenden Lehrern keinen eigenen Leiter besitzt und nur unregelmäßig und konfus geprobt wird. Der Probenraum besteht aus zwei Räumen einer alten Grundschule, zu deren Abriss schon seit Jahren das Geld fehlt. Der Putz blättert aufgrund der Feuchtigkeit in langen Streifen von den Wänden, der feuchte Lehmboden lässt gelagerte Instrumente vermodern, und die kleinen Fensternischen lassen weder Luft noch Licht in die Räume, so dass stickige Temperaturen um 50 Grad normal sind. Einige Stühle haben sich die Jugendlichen aus anderen Räumen „entwendet“, Notenständer selbst gekauft, und die Noten werden in mühsamer Handarbeit von zerknitterten und schmutzigen Originalen abgeschrieben. Man merkt, dass das ganze Projekt zumindest hier noch sehr in seinen Anfangsschuhen steckt und ein anständiger Probenraum dringend nötig wäre.