Anreise mit Hindernissen zum Musikfestival
Tatkräftige Hilfe der Freiwilligen im Dorforchester
In dieser Situation ist dann im letzten Jahr ein österreichischer Arzt nach hier her gekommen, um im Krankenhaus sein praktisches Jahr abzuleisten. Er spielt professionell Cello und blieb dem Orchester nicht lange unentdeckt. Schon bald hatte er drei eigene Cello-Schüler, wurde zum festen Integranten des Orchesters und später zum Orchesterchef ernannt, alles natürliche auf „freiwilliger Basis“. Seitdem versuchte Valentin, auch Jugendliche der ärmeren Schichten für Musik zu begeistern und feste Probenpläne aufzustellen, um die inzwischen recht gesunkene Qualität wieder auf ihren alten Stand zu bringen. In dieser Phase kam ich in die Stadt und als bekannt wurde, dass ich ein wenig Geige spiele, stand für ihn mein Engagement im Orchester fest. Rückblickend weiß ich nicht, wie ich die täglichen drei- bis vierstündigen Proben neben der Arbeitsbelastung in der Schule und mit der Idente-Jugend bewältigt habe – in den Monaten Februar bis Mai habe ich selten mehr als vier, fünf Stunde pro Nacht geschlafen. Der Grund für die intensive Proberei war das im April und Mai anstehende Barockfestival, zu dessen Anlass sämtliche Orchester und Chöre der Chiquitania sich zu einem gemeinsamen Konzert in Santa Cruz treffen, um anschließend getrennt durch die Reduktionen zu touren und Einzelkonzerte geben. Hier musste also nicht nur das Konzertprogramm für Santa Cruz einstudiert, sondern auch ein weiteres, eigenes Programm erstellt werden. Die Programme stellten eine bunte Mischung europäischer und chiquitanischer Barockstücke von Bach bis Zipoli (einer der bekanntesten chiquitanischen Komponisten) und moderner Folklorestücke dar.
Am 30. April sollte es dann nach vielen schweißtreibenden Probestunden endlich mit einem Reisebus losgehen: Um ein Uhr hatten wir alle mit Gepäck und Instrumenten auf der „plaza“ zu warten, um pünktlich zu unserem ersten Konzert in San Xavier um 19:00 zu erscheinen. Als der Bus nach einer Stunde noch nicht eingetroffen war, machte sich in Anbetracht des recht lockeren bolivianischen Zeitverständnisses noch keiner Sorgen. Nach zwei Stunden wurden die ersten unruhig und nach drei Stunden kamen dann doch ernsthafte Zweifel auf, ob man uns nicht vergessen habe. Nach vier Stunden entschied sich endlich jemand, die Zuständigen in San Xavier anzurufen, und es stellte sich heraus, dass man vergessen hatte, uns einen Bus zu schicken. Nach fünf Stunden kam dann endlich der versprochene Bus, es war mittlerweile sieben Uhr und unser Konzert in San Xavier wurde abgesagt; stattdessen fuhr man uns mit einem Zwischenstopp zum Abendessen um ein Uhr morgens direkt zum nächsten Konzert in Santa Cruz, wo wir um fünf Uhr morgens im Hotel ankamen. Nach kurzer Erholung stand hier eine ganztägige Probe mit dem Riesenorchester der Chiquitania, also allen Streichergruppen der Region an, um dann am späten Nachmittag ein Konzert in einer der größten Kirchen Santa Cruz’, die „La Mansión“ genannt wird (sie ist fast kreisförmig aufgebaut und die aus Bambus gefertigten Sitzbänke umrunden den zentralen Altar; sie kann einige tausend Menschen fassen). Es war eine tolle Erfahrung, mit mehreren hundert Menschen zusammen zu spielen, auch wenn die anderen Orchester uns doch sehr überlegen waren. Ruben Dario verfrachtete unsere Fraktion wohlweislich ganz nach hinten, frei nach dem Motto „Dabei sein ist alles“, so dass wir uns um falsche Töne keine Sorgen machen mussten. Es war interessant, einige der sehr von sich selbst überzeugten Elite- Kids im Angesicht der zum Teil hervorragend spielenden Konkurrenz vor Angst und Scham (die allerdings unbegründet war) in sich zusammensinken zu sehen; wussten sie doch, dass diese ihnen überlegenen Musiker fast ausschließlich aus „paico“ – Familien (Bauernfamilien) stammen.
Valentin und ich waren die einzigen waschechten „gringos“ (manchmal abwertend benutzter Begriff für Weißhäutige), die in den traditionellen Konzertroben mit den ausschließlich einheimischen Musikern auf der Bühne saßen – und die ein oder andere ideologische Diskussion entfachten. Spieler anderer Dörfer warfen uns vor, wir hätten uns in ein den Einheimischen gewidmetes Projekt gemischt und würden schamlos örtliche Gelder ausnutzen. Diesen Vorwurf zogen sie jedoch sofort zurück, als Ruben Dario uns Rückendeckung gab und sie über die Existenzprobleme aufklärte, die unser Orchester ohne Valentins Hilfe hätte. Tatsächlich gibt es auch in anderen Dörfern europäische oder nordamerikanische Freiwillige, die sich in der örtlichen Orchestermusik engagiert haben, von denen jedoch keiner in den Konzerten mitspielte; allerdings besteht in diesen Orchestern auch kein so extremer Besetzungsmangel, wie dies bei uns der Fall ist.