Was wird aus den Kibbuzim?
Zukunft oder Utopie?
Gleichheit aller Menschen
Vor mir sitzt ein Freund, ehemaliges Mitglied des Kibbuz En Gedi am Toten Meer, wo er drei Jahre als, Volontärsleiter gearbeitet hatte. B. hat im Alter von 25 Jahren Deutschland verlassen, weil die Verhältnisse in Deutschland auch nach dem Krieg für junge Juden nicht angenehm gewesen seien.
Er ist 58 Jahre alt, erfahren in der Entwicklungsgeschichte „seines" Kibbuz ebenso wie in der Entwicklungsgeschichte der Kibbuzim allgemein. Ich befrage ihn über die Zukunft des Kibbuz, das Werk dreier Generationen. Hat das ideologische Modell (4), das der Kibbuz vertritt, eine Chance des Weiterbestehens und der aktiven Mitgestaltung an der Zukunft Israels?
B. äußert starke Zweifel. Er weist mich daraufhin, dass viele Kibbuzim heute stark verschuldet sind oder sogar, wie z. B. En Gedi, vor dem wirtschaftlichen Aus stehen. Junge Leute fühlen sich von den Arbeits-, Bildungs- und Unterhaltungsangeboten der großen Städte angelockt: Gewinnstreben des Einzelnen bedeutet mehr als der Gedanke an Solidarität, der Gleichheit aller Menschen. Kinnereth war zudem vor einigen Jahren gezwungen, seine Kalkfabrik zu schließen. Sie entsprach nicht dem ökologischen Standard, spie Gift in die Luft. Meinen Jubel über die strengen Naturschutzgesetze dämpft B. mit dem Hinweis auf 200 verlorene Arbeitsplätze.
B. erklärt: „Die Gründer der Kibbuzim in den 20er und 30er Jahren waren im Gegensatz zu heute vorwärtsgewandte Utopiker. Sie glaubten an die Zukunft und wollten sie erschaffen; sie erfanden Israel, bevor es als Staat existierte.
Ziel war die Erneuerung der Gesellschaft, indem die körperliche Arbeit geadelt wurde und man gleiche Entlohnung für jede Arbeit forderte, um so Hierarchien abzubauen. Es sollte keine Armut mehr auf der einen und Kapitalanhäufung auf der anderen Seite geben, die zur Ausbeutung führen würde. Professor und Putzfrau sollten um der Gemeinschaft willen gleichen Lohn erhalten. Heute wird der Professor vielleicht sagen: Ich leiste mehr, also will ich auch mehr Geld. Und wem soll der Dienstwagen gehören? Darf der Professor ihn benutzen, obwohl das seinen Status gegenüber den Kameraden verändert?"
Damals ging es um die Schaffung einer idealen Gesellschaft, die nach der kommunistischen Losung: „Ein jeder nach seinen Möglichkeiten, ein jeder nach seinen Bedürfnissen" handelte (5).
Der ethische Kern dieser Idee ist bedeutend, besonders wenn man ihn heute mit dem kapitalistischen Zwangssystem, das den „Wert" eines Menschen nach seiner Leistungsfähigkeit bemißt, vergleicht. Vorbild der Kibbuzim, in denen persönlicher Besitz nichts gilt, waren die russischen Kolchosen. Es waren russische Juden, die, von Verfolgung und Pogromen bedroht, nach Palästina kamen, Sümpfe trockneten und Felsen begrünten. Sie starben an Erschöpfung. Doch vorher standen sie vor dem Nichts und erlösten die Erde durch Arbeit (6): Viele ehemalige malariaverseuchte Sumpfgebiete (Huletal, Jesreel-Ebene, Jordanebene) sind heute der „Obstgarten Israels." Felix Saiten hat den hart arbeitenden Menschen in seinem erstmals 1925 publizierten Buch „Junge Menschen auf alter Erde" ein bleibendes Denkmal errichtet (7).
Vom sozialistischen Ethos der ersten Kibbuzim ist heute wenig geblieben. Damals waren die Gedanken: Kollektivismus, Gemeinschaft vor Individualismus, eine aus der Not geborene Tugend; heute, so B. in seinem Bericht, „wollen die Leute Geld machen." Dieser Gedanke legt Individualismus nahe. Ein weiteres Problem: viele Kibbuzim haben nicht die wirtschaftliche Möglichkeit, die jungen Leute studieren zu lassen. Und Landwirtschaft mag nicht jede/r. Oberstes Prinzip des Kibbuz ist jedoch der freie Wille aller Beteiligten. Die „rettende Kraft der Utopie"8 ist nur da möglich, wo man an sie glaubt.
Die Entwicklung von humanistischen Gemeinschaftsinseln und ihre Gefährdung sagt viel aus über den ethischen Zustand einer Gesellschaft. Ich habe gern im Kibbuz gearbeitet (auch wenn die Zimmer-Situation unerfreulich war) und möchte, daß es diese zwanglose Art der Arbeits- und Erfahrungsmöglichkeit in Israel weiterhin gibt.
Der Kibbuz wird, auch wenn er seine ökonomische Struktur wird verändern müssen, versuchen, um seine ursprünglichen Ideale zu kämpfen. Das bedeutet zugleich: er muss aus der rückwärtsgewandten Utopien sowie der nostalgischen Betrachtung vergangener großer Innovationen heraus finden, und sich den heutigen Problemen stellen, die der gegenwärtige Kapitalismus als Gesellschaftssystem aufwirft. Offenbar ist er in seiner gegenwärtigen Form den Gewinnanreizen der Gesellschaft nicht gewachsen; er verliert die jungen Leute.
Er müßte alternative Anreize bieten. Andererseits kann es sich Israel nicht leisten, die sozialen Errungenschaften des Kibbuz, die sein Fundament sind, aufzugeben. Denn unter dem Aspekt der Ethik gesehen, ist der Kibbuz die höchste Stufe sozialer Integration. Die Idee der sozialen Gleichheit ist zu bedeutsam, um sie aufzugeben; sie ist der wichtigste Impuls, den man einem Staat geben kann.
Sulamith Sparre