Aspekte der Industrialisierung
Mitbestimmung: Teil des Erfolgs
Hinter diesem Motto verbirgt sich wahrscheinlich ein Teil der Erklärung für den relativen Erfolg der Kibbuz-Industrialisierung. In der Infobroschüre über den Verband der Kibbuzindustrien (KIA) ist in der Mitte ein Bild von Kindern auf einem Kreativ-Spielplatz. Dieses Bild illustriert das Konzept: Der Mensch im Zentrum des Geschehens.
Da die Fabrik im Kibbuz sozusagen allen gehört, hegen alle Mitglieder die stillschweigende Erwartung, mitbestimmen zu dürfen. Die komplizierte Praxis der Übertragung der Befugnisse von der Vollversammlung auf eine kleine Gruppe von Direktoren läßt offen, bis wohin die Mitsprache des einzelnen Kibbuzmitgliedes noch gehen soll. In einer normalen Fabrik bestimmt die Direktion, wer eingestellt wird. Eine Besonderheit der Kibbuzfabrik ist unter anderem, dass die Arbeiter die Direktion auf eine befristete Amtszeit bestimmen. In manchen Kibbuzim wird der Direktor fabrikintern gewählt. In anderen Fällen wird die Direktion durch die jährlich neugewählten Kibbuzorgane bestimmt. In vielen Fällen muss der Direktor namentlich von der Kibbuzvollversammlung bestätigt werden.
Damit ist ein ungewöhnlich hohes Maß von Mitbestimmung erzielt worden, das selten sonst auf der Welt anzutreffen ist. Die Direktion wird also nicht von einer kleinen Gruppe von Großaktionären gewählt. Die Arbeiter sind die Eigentümer, und bestimmen die Zusammensetzung der Geschäftsleitung.
Mitbestimmung hört nicht bei der Wahl der Führungskräfte auf. Während der Amtszeit der Direktion will der Arbeiter auch weiter mitentscheiden.
In der Landwirtschaft der Gründerjahre war es kaum problematisch, sowohl die Allgemeinheit zu informieren als auch den Einzelnen am Entscheidungsprozess teilnehmen zu lassen. Die moderne Fabrik aber erfordert eine längere Ausbildung und spezialisierte Aufgabenverteilung. Früher konnte jedes Mitglied die Arbeit des anderen überschauen, oft sogar verstehen und vielleicht auch selber tun. Die Mitbestimmung, ein Leitprinzip »kibbuzischen« Denkens und Handelns, ist im Verlauf der Industrialisierung problematisch geworden. Die Diskrepanz zwischen den Erwartungen und den Fähigkeiten führt zu Konflikten. Die Komplexität der modernen industriellen Prozesse bewirkt eine Spaltung der Mitarbeiter in klar abgegrenzte Gruppen von denjenigen, die »etwas davon verstehen« und Leuten, die »nichts davon verstehen«. Es kommt also vor, dass Mitglieder mitbestimmen, obwohl sie auf diesem Gebiet nicht sachkundig sind. Oder sie wollen mitreden, aber können es aus mangelndem Fachwissen nicht tun. Die Entwicklung der Industrie hat mehr und mehr dazu geführt, dass die Mitglieder im Kibbuz um die Mitbestimmung ringen müssen. Die Leiter der Industrien sind zu einer »besser-informierten« Gruppe geworden. Die Kluft zwischen dem Wissensstand des einzelnen Arbeiters und dem des Exportmanagers führt dazu, dass die Leiter der komplizierten Industrieangelegenheiten auch allgemein im Kibbuz als Autoritäten anerkannt werden. Die Einnahmen der Industrie machen in vielen Kibbuzim mehr als die Hälfte der gesamten Kibbuzeinnahmen aus. Daher sind Entscheidungen im industriellen Bereich von spürbarer Bedeutung für das Wohlergehen der ganzen Kibbuzgemeinschaft. Nun muss natürlich das Prinzip der Mitbestimmung in konkrete Praxis umgemünzt werden. Es gibt Direktoren, die ihren Mitarbeitern ein Gefühl und ein Bewußtsein der Mitverantwortung und der Teilnahme am Entscheidungsprozess vermitteln können. Allerdings muss man auch bedenken, daß täglich viele Entscheidungen über Produktion, Finanzen und Vertrieb zu treffen sind. Man kann also unmöglich laufend alle über alles informieren. Aber das Prinzip der Rotation in den Entscheidungspositionen bewirkt ein besonderes Verhalten der Geschäftsleitung. Der Direktor weiß, daß er in einem Jahr oder in zwei Jahren abgelöst wird. Er muss auf die Mitarbeiter eingehen, denn bald wird er auf der anderen Seite sein. Er muss heute die Kollegen mitbestimmen lassen, wenn er morgen selber auch mitreden will.
In der Praxis...
Gelegenheit zur praktischen Beteiligung an Entscheidungen hat jeder Mitarbeiter auch indirekt über die Kibbuzorgane: Vollversammlung, Wirtschaftskommission und Sekretariat. In der Vollversammlung des Kibbuz hat jedes Mitglied eine Stimme bei der Debatte über den Haushalt. Jedes Mitglied kann in die Wirtschaftskommission gewählt werden. Und auch ohne gewählt zu werden, kann man bei den öffentlich gehaltenen Sitzungen der Kommission teilnehmen.
Durch Teilnahme an den Sitzungen der Vollversammlung und der Wirtschaftskommission erhält jeder Mitarbeiter der Fabrik die Möglichkeit, laufend die Entscheidungen der gewählten Direktion kontrollieren zu können. Die Tatsache, daß diese Möglichkeit besteht, ruft bei der Geschäftsleitung das ständige Bewußtsein hervor, durch die eigenen Mitarbeiter beobachtet und kontrolliert zu werden. Dazu kommt noch die tägliche Verwaltung der Fabrikfinanzen durch den Kibbuzschatzmeister, der Mitglied des Sekretariats ist. Im Rahmen des Sekretariats werden auch laufend Berichte erstattet. Die Rolle des Sekretariats wird besonders in Streitfällen deutlich. Es kann einen Direktor oder eine Direktion durch Kibbuzbeschluß sogar absetzen.
Abschließend ist nicht zu vergessen, dass hier nur einige Aspekte der Mitbestimmung im Kibbuzwerk genannt wurden: ob die theoretische Möglichkeit zur Mitbestimmung tatsächlich voll ausgeschöpft wird, ist eine wichtige Frage. Festzuhalten ist, daß die Vielschichtigkeit der Sachverhalte die Mitbestimmung informationsbedingt einschränkt. Die Bedeutung der Kibbuzstruktur im Hinblick auf die Mitbestimmung besteht vor allem in der reellen Chance, die jedem geboten wird, engagiert am Entscheidungsprozess teilnehmen zu können.