Industrie im Kibbuz
1960 - 1970
In dieser Zeit verlangsamt sich das Wachstum der Industrie nicht. In zehn Jahren kommt man von 100 auf 170 Fabriken. Damit fängt die Rationalisierung und Modernisierung der Landwirtschaft an, sich auf die Aufnahmekapazität von Arbeitskräften auszuwirken. Es müssten neue Arbeitsplätze entstehen, um die aus der Landwirtschaft ausscheidende, älter gewordene Generation zu integrieren. Die Maxime heißt also nicht nur »Industrialisieren«. Es geht darum, einer bestimmten Gruppe die Fortführung der produktiven Mitarbeit im Kibbuz durch angemessene Arbeitsbedingungen zu ermöglichen. Es ist daher wohl kein Zufall, dass in diesen Jahren mehrere Kunststoffabriken entstehen, in denen das in der Bewässerungstechnik erworbene Fachwissen zur praktischen Weiterentwicklung modernster Bewässerungssysteme geführt hat.
Das Team in der Industrie kennt die Probleme aus eigener Erfahrung. Auch in der Metallindustrie werden neue Produkte hergestellt, die die Arbeit auf dem Feld erleichtern sollen. Aber auch Elektro- und Optikindustrien machen wesentliche Fortschritte.
In dieser Dekade erhält die Kibbuzindustrie eine neue Aufgabe: den materiellen Lebensstandard der Kibbuzmitglieder anzuheben. Die zweite Hälfte der sechziger Jahre ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass relativ viele Kibbuzmitglieder den Kibbuz verlassen.
Der Lebensstandard einer Kibbuzfamilie ist wesentlich unter dem Durchschnitt der israelischen Familie geblieben. Viele Veteranen sind unzufrieden, weil sie nach Jahren harter Arbeit feststellen müssen, dass andere Leute ihres Alters in der Stadt ein bedeutend höheres Lebensniveau haben. Da der Markt für landwirtschaftliche Produkte keine nennenswerte Steigerung der Kibbuzeinnahmen erbringen kann, wird es Aufgabe der Kibbuzindustrie, die Zukunft der Kibbuzgesellschaft durch Wachstum zu garantieren.
Auch junge Leute haben die Kibbuzim zu jener Zeit verlassen. Für sie war die Landwirtschaft keine Herausforderung mehr. Aus mehreren Gründen also hatte der Kibbuz eine verstärkte Tendenz zur Industrialisierung in den sechziger Jahren. Dieser Druck, die Industrialisierung voranzutreiben, mag mit ein Grund dafür gewesen sein, dass in dieser Zeit die Zahl der Lohnarbeiter weiter stieg. 1965 waren nach Angaben der Vereinigung der Kibbuzindustrien (die 1963 gegründet wurde) von den 7000 Beschäftigten ca. 4000 Lohnarbeiter, also keine Kibbuzmitglieder. Dies war ein Verzicht auf ein wichtiges Element der Ideologie, nämlich auf das Prinzip der Selbstarbeit.
Allerdings sollte man dabei bedenken, dass 60 % dieser Lohnarbeiter in nur zehn großen Fabriken von den ca. 170 damals existierenden kibbuzeigenen Fabriken beschäftigt waren. Das bedeutet, dass die Mehrheit der Kibbuzim weiterhin die Lohnarbeit soweit wie möglich zu meiden suchte. Ein großer Teil der Lohnarbeiter wurde in wenigen Regionalfabriken beschäftigt, die mehreren Kibbuzim zusammen gehörten.
In den siebziger Jahren spielte die Ausfuhr eine immer wichtigere Rolle bei der Produktion. 1979 produzierten 210 von insgesamt 332 Fabriken für den Export. Damit kam die Kibbuzgesellschaft in verstärkte Berührung mit der internationalen Industriepraxis.
Die Mitarbeiter der Exportindustrien verstanden sich in vielfältiger Weise als die neuen Pioniere der Kibbuzbewegung, denn wieder einmal wirkten sie an einer nationalen Herausforderung mit: der Erweiterung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit Israels. Die Vielfalt der neuen Aufgabengebiete faszinierte die Jugend und bot ihr genügend sinnvolle Betätigungsmöglichkeiten. In den siebziger Jahren stellte sich heraus, dass die Kibbuzindustrie - wohl durch eine besonders motivierte Belegschaft - überdurchschnittliche Leistungen vollbrachte. Die Zuwachsrate des Umsatzes in den Jahren 1969 bis 1976 war in der Kibbuzindustrie um 27 % höher als der israelische Durchschnittswert.
1980 - 1987
Die Industrialisierung geht weiter: 1980 machte die Kibbuzindustrie 5 % der industriellen Produktion Israels aus. 1985 waren es 6.7 %. Die Exporte der Kibbuzim betrugen 1980 215 Millionen $. 1985 waren es 291 Millionen US $. 1980 arbeiteten 13.000 Menschen in den Fabriken der Kibbuzim. 1985 waren es 15.650. Seit Ende der siebziger Jahre haben mehrere Kibbuzim erhebliche Anstrengungen zur Verminderung der Lohnarbeit unternommen. Die Gewinne aus der erfolgreichen Landwirtschaft der siebziger Jahre wurden zu einem Teil in die Industrie investiert. Diesmal ging es um eine ganz andere Industrie als in den fünfziger Jahren. Die Spannung zwischen dem Kibbuz und den Lohnarbeitern hatte auch zu Diskussionen innerhalb des Kibbuz geführt. Die Arbeitsmoral hatte nachgelassen, vielleicht auch, weil man sich auf die Einnahmen aus der Industrie verlassen hatte. Um diese Konflikte zu beenden, ging man zu einem neuen Konzept von Industrien über: nicht mehr arbeitskräfteintensive Industrien, sondern kleinere Fabriken, für die der Kibbuz genug Personal aus den eignen Reihen stellen konnte. Damit aber der Lebensstandard nicht wieder weit hinter dem israelischen Durchschnitt lag, dachte man nicht nur an kleine Fabriken, sondern es sollten gleichzeitig »know-how«-intensive Industrien werden. Durch besonderes Fachwissen und durch Automation sollte es möglich werden, sowohl zur Selbstarbeit zurückzukehren, als auch in Tuchfühlung mit dem durchschnittlichen israelischen Lebensstandard zu bleiben.
Diese doppelte Herausforderung - ideologische und industrielle Bestleistungen zu erbringen - entfachte neue Hoffnungen in den Kibbuzim, die trotz materiellen Wohlstandes ideologische Gewissensbisse wegen der Lohnarbeit hatten. Zur Bedeutung des Überganges zu der »know-how«-intensiven Industrie hier einige Zahlen: Während 1969 die Ausfuhren der Kibbuzim von Elektrogütern ca. US $ 30.000 ausmachte, waren es im Jahre 1985 US $ 11.200.000. Optik tauchte 1969 noch nicht bei den Ausfuhren auf. 1979 trug diese neue know-how-trächtige Branche bereits US $ 1.648.000 zu den Kibbuzexporten bei, und bis 1985 waren es 5.100.000 US $.
Die Nahrungsmittelindustrie, in der die Automation eine wichtige Rolle spielte, hat in den Jahren 1969-1985 die Ausfuhr von 6,75 Millionen US $ auf 83,5 Millionen US Dollar vervielfacht. Während die Ausfuhren der Metallverarbeitung in den Jahren 1980-85 von ca. 52 auf 50 Mill. US $ gewachsen sind, stiegen zur selben Zeit die Exporte der automatisierten Kunststoffindustrien von 52,3 Millionen US $ im Jahre 1980 auf 87,2 Millionen US $ 1985.
Die Besonderheit der Errungenschaften erkennt man gut an der Tatsache, dass 1984 der »Umsatz pro Arbeitnehmer« im Kibbuzwerk einen Durchschnitt von ca. 78.500 US $ erreichte. Verglichen mit dem israelischen Durchschnitt von nur 53.300 US $ ist dies eine auffallend hohe Produktivität.
1988 - 1996
Der Trend weg von der Landwirtschaft hat sich in neuerer Zeit unverändert fortgesetzt: in den Kibbuzim wird inzwischen ein Großteil der Produktion in Industriebetrieben und im Dienstleistungsbereich erwirtschaftet.
Die überdurchschnittlichen Leistungen der Kibbuzindustrie waren und sind ein Phänomen, das die Neugier der Beobachter und Besucher weckt. Wie kommt es, dass 3 % der Bevölkerung ca. 7 % der industriellen Produktion eines Landes erwirtschaften? Der Rahmen dieses Beitrages ist nicht dazu geeignet, alle Aspekte der industriellen Wirklichkeit im Kibbuzleben eingehend zu analysieren. Aber einige Themen, die in der Kibbuzindustrie von besonderer Bedeutung sind, sollte man sich auf jeden Fall etwas näher anschauen: